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„Haben Sie das übersehen?“

 

© Streeter Lecka/Getty Images

Ein Schachturnier in einem grossen Saal. An zwanzig Brettern dampfen die Gehirne. Als ich mich an den mir zugewiesenen Platz setze, erkenne ich sofort: Mein Gegenüber ist blind. Vor ihm, seitlich versetzt, steht sein spezielles Blindenbrett. Runde und eckige Aufsätze auf den Figuren lassen ihn erfühlen, was weiße und was schwarze Figuren sind. Er reicht mir die Hand. „Schönes Spiel“ murmeln wir beide und beginnen die Partie. Sobald ich ihm flüsternd meinen Antwortzug nenne, beginnen seine Hände einen flinken Tanz auf seinem Brett. Faszinierend zu sehen, wie die Fingerspitzen über die Figuren streichen, um ihre Lage zu ertasten. Es raschelt leise. Seine Augen ruhen starr irgendwo auf einem fernen Punkt im Raum.

Es geschieht etwa beim 20. Zug. Meine Dame, die ich gerade mitten in seine Stellung setze, scheint ihm Probleme zu bereiten. Unruhig gleiten seine Hände über die Spitzen, er wirkt sichtlich nervös. Plötzlich erkenne ich den Grund seiner Unruhe: Ich habe die Dame „eingestellt“, er kann sie ohne Kompensation schlagen. Und dann, nach einer für mich unendlich langen Weile des Wartens, fragt der Blinde den Sehenden: „Haben Sie das übersehen?“ Was für eine wunderbare Frage! Ich reiche ihm die Hand zum Zeichen der Aufgabe. Das war mein berührendster Partieverlust.

Hartmut Stieger, Flums, Schweiz