Der 15. Juli 1960 war einer der aufregendsten Tage in meinem Leben: Unserer Familie zog von Thüringen nach Baden-Württemberg. Andere würden das vielleicht »Flucht« nennen, aber mein Vater hatte alles über einen langen Zeitraum hinweg perfekt und sehr diskret vorbereitet, in ständiger Angst vor Entdeckung. Zu seinen logistischen Meisterleistungen gehörte, dass er am Flughafen Berlin-Tempelhof für sich, für meine Mutter, meine Schwester und für mich Flugtickets von Berlin über Frankfurt nach Stuttgart hatte hinterlegen lassen. Alles klappte perfekt,
auch der riskanteste Teil des Unternehmens, das Umsteigen vom Zug aus Gera in die S-Bahn nach Tempelhof am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Kürzlich fiel mir das auf mich ausgestellte Flugticket wieder in die Hände, fünfzig Jahre nach jenem denkwürdigen »Umzug« und zwanzig Jahre nach dem Mauerfall. Dabei wusste ich gar nicht mehr, dass es noch existierte. Dieses Ticket war für mich wie ein Schlüssel zu einem total neuen, freien und selbstbestimmten Leben.
Volker Gräfe, Obersontheim