Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören die Samstagmorgen, an denen unser Vater meinem Bruder und mir vorlas. Ich war neun Jahre alt, mein Bruder drei Jahre älter. Deshalb variierte die Literatur von der Unendlichen Geschichte über Momo bis hin zu den Büchern von Enid Blyton. Mein Bruder und ich lagen an un seren Papa geschmiegt in seinem Bett und lauschten seinen Worten. Oft war er schon ganz heiser, weil er häufig unserem Bitten nachgab: »Nur noch ein Kapitel, jetzt ist es gerade so spannend!« In der Abenteuerserie von Enid Blyton kommt mein WortSchatz vor. Ich weiß nicht mehr, in welchem der acht Bücher beschrieben war, wie ein Kind behende einen Fels hochklettert. Mein Bruder und ich jedenfalls mussten uns von un serem Vater erklären lassen, was das bedeutet, denn das Wort wurde auch schon 1986 kaum noch benutzt. Zum Amüsement unseres Vaters ließen mein Bruder und ich uns minutenlang über dieses komische Wort aus. Nun lebe ich seit fast neun Jahren in der Schweiz und arbeite als Logopädin mit Kindern. Vor zwei Jahren entdeckte ich meinen Wort Schatz in einem Förderbericht, da verwendete eine Therapeutin tat sächlich das Wort »behende«! So gleich hatte ich wieder das Bild des kletternden Mädchens vor Augen – und den 22 Jahre zurückliegen den Samstagmorgen.
Ruth Schulte Meyer, Bern