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Gewogen: Mein Wort-Schatz

 

Mein Wort-Schatz ist das kleine doppelsinnige Wörtchen gewogen – aber eben nicht im Sinne von »gewogen und zu leicht befunden«, sondern in dem sprachlich heute völlig ungebräuchlichen Sinne von »zugeneigt« oder »wohlgesinnt« sein. Und warum ist dieses vermeintlich ungewichtige Wörtchen ein Schatz? Das hat seinen Ursprung in meiner späten Kindheit, als ich begann, auch längere Geschichten und Sagen zu lesen, etwa über die Nibelungen und ihre einprägsamen wie unvergesslichen Könige und Ritter: Gunther, Gernot, Giselher, Rüdiger von Bechelaren – und, sie alle überragend, Jung-Siegfried. Noch heute, mit 73, vermag ich das herzzerreißende Gefühl in mir wachzurufen, das mir als kleinem Jungen die Tränen in die Augen trieb, wenn ich las, wie Siegfried sich zum durstlöschenden Trunk an der Quelle niederkniete und Hagen ihm den Speer in die einzige verletzliche Stelle im Rücken stieß. In mir brach damals eine Welt des Vertrauens in Ehrlichkeit, Anstand, ja das Gute im Menschen zusammen, als Siegfried sterbend seine letzten Worte sagte: »Wie habt Ihr mich betrogen, wenn freundlich Ihr getan, ich war Euch stets gewogen und sterbe nun daran.«

Seitdem ist das Wort »gewogen« für mich zu einer Art Nibelungen- (sprach)schatz geworden, als Ausdruck für eine zwar eher altmodisch anmutende Sympathie-Empfindung, die aber gleichermaßen das Vertrauen enthielt, dass diese Gewogenheit auch auf entsprechende Wertschätzung durch den stößt, der dieses Gewogensein erfährt.

Heiner Kuse, Dietzenbach