Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Erinnerung an Hedwig

 

Als ich Schwester Hedwig kennenlernte, war sie kurz vor der Rente. Eine kräftige, mittelgroße Krankenschwester, die zupacken konnte. Das Tun war ihre Stärke, weniger das Diskutieren. Kamen Praktikanten ins Pflegeheim mit neuen
Ideen, dann meinte Hedwig: »Die kommen her, stecken ihre Nase überall rein, wollen alles verändern, dann gehen sie studieren. Uns bleibt die Arbeit, weil sie die Alten völlig durcheinanderbringen« Wer die Pflegestation von Schwester Hedwig für die nächste Schicht übernahm, konnte sich darauf verlassen, dass alle sauber in frisch bezogenen Betten lagen. Hedwig war das Symbol für die Satt- und Sauberpflege. Sie starb in einem Pflegeheim, in dem es für Hygiene einen Zeitplan gab, für den sich niemand wirklich verantwortlich fühlen wollte. Nun hatte die Satt- und Sauberpflege einen geringeren Stellenwert. Alle wollten therapieren, in Gesprächsrunden, mit Maltherapie, Basteln, Musiktherapie, Tanz, Veranstaltungen, Ausflügen, Filmvorführungen und Vorträgen. Manchmal roch es unter Hedwigs Bettdecke. Dann war sie unruhig, murrte vor sich hin, der Schlaganfall hatte ihr die Sprache genommen. Aber keiner wollte sie verstehen. Einmal wurde sie in den Rollstuhl gesetzt. Es hieß, sie müsse beschäftigt werden. Sie sollte in die Bastelrunde. Hedwig hatte nie im Leben gebastelt. Plötzlich drängten Blase und Darm. Sie bat um Hilfe, aber Basteln war angesagt, nicht Säuberung. Die Therapeutinnen waren für den Schmutz in Hedwigs Unterhose nicht zuständig. Freundlich erinnerte man sie daran, dass sie eine Windel trug. Die Selbstverwirklichung kreativer Mitarbeiter in der Altenpflege bringt Qualitätspunkte. Erfolgreich wehrte sich Hedwig von nun an gegen jede Therapie, indem sie wütend mit dem noch funktionierenden Arm um sich schlug. Die Scham hatte sie nicht mehr losgelassen. Bald bedrängte sie keiner mehr. Nur wenn sich die Tür öffnete und der Therapiehund schnüffelnd um ihr Bett schlich, lag sie ganz still, liefen Tränen über ihr angespanntes Gesicht, vielleicht, weil sie an ihren Hund dachte und die Zeit der Selbstbestimmtheit zu Hause.


Margarete Noack, Berlin