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In zwei Welten: Brief an Felix

 

Du bist da und doch nicht. Du schaust mich an und durch mich hindurch. Jeden Tag spreche ich mit Dir und erhalte keine Antwort. Für Augenblicke suchst Du den Körperkontakt, um Dich dann wieder Deinen Spielen zuzuwenden. Du liebst alles Runde und alles, was sich dreht, spielst stundenlang mit bunten Ringen und reiseln. Die Ringe ordnest Du in Mustern auf dem Fußboden an und tänzelst darum herum, dabei gibst Du kehlige Laute von Dir oder auch Gekreische, weshalb wir Dich manchmal unseren »Urwaldvogel« nennen. Oft hältst Du einen Ring dicht vor Dein Auge und schaust konzentriert hindurch wie durch eine Lupe. Wie gerne wüsste ich, was Du dann siehst. Du bist mein Sohn. Du bist fünfeinhalb Jahre alt. Du bist frühkindlicher Autist und gehörlos. Erst seit drei Jahren hörst Du rechtsseitig dank eines Cochlea-Implantats. Ich kenne nicht Dein Lieblingstier und Deine Lieblingsfarbe. Ich weiß noch nicht einmal, ob Du weißt, was eine Farbe ist. Ich weiß nicht, warum Du nur sü.en Brei essen möchtest. Du bist ein hübscher blonder Junge mit großen braunen Augen, man sieht Dir Deine Behinderung nicht an. Und doch fallen wir unterwegs auf. Wenn Du akribisch Oberflächenstrukturen abtastest, im Supermarkt die Vibration der Kühlregale Dich begeistert, Du in Geschäfte hineinläufst und Dich an der Beleuchtung erfreust, wenn Du um Gullideckel herumspringst und dabei vor Vergnügen kreischst oder freudestrahlend auf jeden Rollstuhl und Kinderwagen zusteuerst. Dein Lachen ist ansteckend. Doch Deine Welt ist nicht nur Freude. Deine Welt ist auch Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Einsamkeit,  Verzweiflung, Autoaggression. Umso mehr freue ich mich über die Momente, in denen Du an unserer Welt teilhast. Wenn Du beim Kinderturnen ein Hindernis allein bewältigst und meine Freude mit einem Strahlen erwiderst, wenn Dein kleiner Bruder Dich im Garten »fangen« darf und Du umfällst vor Lachen, wenn Du mir immer wieder den Kreisel hinhältst, damit ich ihn für Dich in Bewegung setze, wenn Du abends beim Einschlafen meine Hand nicht loslassen magst. Ich wünsche mir, dass wir mit Liebe und Geduld weit mehr solcher
Momente schaffen können. Und doch befürchte ich, dass wir niemals in ein und derselben Welt leben werden.
Katja Tappesser, Soest