Juni. Ein Spargelessen zu dritt. Sie hatte den Tisch festlich gedeckt, ihr Mann die Kartoffeln gekocht, die Freundin den Spargel. Ihr Mann war heiter, prostete ihr zu, denn es war ihr Geburtstag. Da störte ein Anruf die friedliche Stimmung. Ein Theologiestudent bat sie, ihm zwei, drei Monate lang jeden Tag beim Übersetzen griechischer und lateinischer Texte zu helfen. Das Thema: Sterben, Tod, das Fortleben der Seele in Texten von Platon und Cicero. Texte, in die sie seit ihrem Studium nicht mehr hineingesehen hatte. Eigentlich hatte sie vor, in den nächsten Wochen und Monaten den Garten umzugestalten, einen Seerosenteich anzulegen, neue Rosen zu pflanzen, die Hecken zu schneiden. Draußen wollte sie sein von morgens bis abends, aber nicht sich mit Perioden und der Funktion von Nebensätzen in den beiden antiken Sprachen beschäftigen. Sie fragte ihren Mann um Rat. »Das machst du«, sagte er nur und fügte ein leises, eindringliches »bitte« hinzu. Sie sagte zu, obwohl sie sich innerlich sträubte. In der Nacht starb ihr Mann an einem Herzinfarkt. In seinem Arbeitszimmer. Als erfahrener Arzt, erfuhr sie einige Tage später von einem seiner Kollegen, hatte er die Vorzeichen am Tage ihres Geburtstags stoisch gelassen selbst diagnostiziert. Zwei Wochen später saß der Theologiestudent, »der Junge«, wie sie ihn von nun an nannte, ungezwungen im Schneidersitz in einem ihrer Sessel. Über ihm im Regal ein Foto ihres Mannes: in Ferienlaune, erholt, lachend. Fast sehnsüchtig erwartete sie die tägliche Anwesenheit des Jungen, während sie nach geeigneten Texten für den Unterricht suchte. Sie half dem Jungen bei seinen allmählich flüssiger werdenden Übersetzungen, ließ ihn die Gedanken der Philosophen interpretieren, entdeckte mit ihm Parallelstellen in der Bibel und bei den Kirchenvätern. Das jugendliche, fast aufmüpfige Gebaren des Studenten und seine fantasievollen Übersetzungsvorschläge brachten sie manchmal zusammen zum Lachen. Und das alles half ihr, nicht die Contenance zu verlieren. So durchlebte sie, nach fast fünfzigjähriger Ehe, die ersten Monate ihres Alleinseins. Dass der Junge vielleicht ein Engel war, der ihr eine Botschaft überbrachte, vielleicht sogar eine frohe, dachte sie bisweilen. Auch später noch und nicht nur zur Weihnachtszeit.
Ursula Schorsch, Berlin