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Knecht Ruprecht

 

(nach Theodor Storm)

Von drauß’ vom Walde komm ich her;
Ich muss euch sagen, es weihnachtet nicht mehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
Seh ich grellbunte Lichter blitzen;
Und droben aus dem Himmelstor
Sieht mit großen Augen kein Christkind hervor.
»Knecht Ruprecht«, sag ich mir, »alter Gesell,
Hebe die Beine und spute dich schnell!«
Doch wie ich so strolcht’ aus dem finstern Tann,
Guckt mich – geklont – mein Ebenbild an.
Und wie ich komm in die große Stadt
Seh ich, dass’s noch viel mehr davon hat.
Ich höre: »Hoho, kauft, kauft, liebe Leut’!
Jeder Wunsch wird erfüllt, und Rabatt gibt es heut!«
Und in den Märkten dröhnt’s immerzu:
»Heilige Nacht!«, und: »In himmlischer Ruh!«
»Knecht Ruprecht«, sag ich mir, »nun wirst du alt.
Mach auf den Weg dich zurück in den Wald!«
Doch als ich schon hebe Bein vor Bein,
Bringt sich das Christkind wieder ein.
»Ach, Ruprecht«, sagt es, »du alter Wicht,
Bleib, wo du bist, und fürchte dich nicht!
Denn morgen flieg ich hinab zur Erden,
Und es wird wieder Weihnachten werden!«

Dorothea Jakob, Hamburg