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Nachtfahrt

 

(Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Erlkönig«)

Wer reist so spät durch Dunkel und Tau?
Ein Ehemann ist es mit seiner Frau.
Er fährt sie sicher, er fährt sie sacht
Durch eine laue Sommernacht.

Mein Schatz, was birgst du so bang dein Gesicht?
Dein Fahrstil, Liebling, gefällt mir nicht!
Das raubt mir den Schlaf, versagt mir den Schlummer.
Mein Schatz, mache dir keinen Kummer!

Mein Liebster, mein Liebster, siehst du es nicht?
Vor uns direkt, das grelle Licht?
Sei ruhig, mein Schatz, ich bitte dich sehr,
Es sind nur die Lichter vom Gegenverkehr.

Mein Gatte, mein Gatte, du fährst ganz verboten!
Es täuschen dich, Liebste, die Leuchten, die roten
Der anderen Fahrzeuge nur voraus.
Mein Gatte, mein Gatte, ich halt das nicht aus.

Mein Gatte, mein Gatte, hör zu, was ich fühl:
Am Rücken zugleich wird mir heiß und kühl.
Halt sofort ein, sonst ist’s mit uns beiden
Endgültig vorbei – ich lasse mich scheiden.

Oder ich straf dich auf ewig mit Liebesentzug.
Genug, meine Liebste, genug, genug!
So will ich dir folgen, wie immer ich’s tu.
Ich überlass dir das Fahrzeug. Fahre du!

Nun fährt sie, selbstbewusst als Frau.
Es stört sie kein Licht mehr, kein Dunkel, kein Tau.
Den Gatten graust es, denn mit stehendem Gas
Jagt sie dahin nun auf nächtlicher Straß’.

Er erwacht spät am Mittag, sein Kopf ist schwer.
Angst und Schreck sind gewichen – und sein Whisky ist leer.

Helmut Gudehus, Coburg