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Mauergedicht

 

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Auf diese DDR-Papiertüte hat meine Mutter, Herlinde Todt, als junge Frau ihre Gedanken zum Mauerbau gekritzelt. Ihre beste Freundin studierte in den sechziger Jahren Medizin und arbeitete während der Semesterferien an der Berliner Charité. Meine Mutter besuchte sie manchmal dort. Bei einem dieser Treffen erzählte ihr die Freundin, Erika, dass sie vom Fenster des in unmittelbarer Nähe der Mauer gelegenen Krankenhauses beobachtet habe, wie ein Flüchtling erschossen wurde. Auf der Heimfahrt nach Köthen versuchte meine Mutter, das Unmenschliche in Worte zu fassen – und hatte offenbar nur diese Tüte zur Hand.
Erika versuchte später selbst, mit ihrem westdeutschen Freund über Bulgarien in den Westen zu fliehen. Die Flucht misslang. Erika kam ins Gefängnis und verließ es als gebrochene Frau. Auch meine Mutter hat gegen den Unrechtsstaat DDR rebelliert und wurde 1968 – weil sie gegen den Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei war – vom Lehrerstudium exmatrikuliert.
Die Freundinnen haben sich leider nie wieder gesehen, denn wenige Jahre, nachdem Erika aus der Haft entlassen und in den Westen abgeschoben worden war, nahm sie sich das Leben. Vermutlich hat meine Mutter die alte Tüte mit dem Mauergedicht deshalb so lange aufgehoben.

Die Stadt der Mauer
Wer kennt sie nicht
Und ihre Erbauer (…)
mit dem Friedensgesicht!
Ein Schutz der Freiheit,
die keine ist!
Mit welcher Gemeinheit
man Menschen erschießt.
Dann lässt man sie liegen,
verbluten im Sand.
Doch nie wird der siegen,
der mißbraucht seine Hand.
Das Wagnis zu fliehen
ist unheimlich groß,
wenn vergebens das Mühen
(droht) ein (…) bitteres Los.
Wie sinnlos das Streben
wenn man bedenkt,
was getan wird für das Leben,
das eine Mutter schenkt.

Anja Sabel, Osnabrück