Im Jahr 1990, kurz nach dem Fall der Mauer, fand in meiner Heimat- und Geburtsstadt Merseburg an der Saale ein Klassentreffen statt. Nach 45 Jahren meine Heimat, mein Elternhaus, meine alte Schule und ehemalige Schulkameraden wiederzusehen – das allein war überwältigend. Einige Klassenkameraden waren in den letzten Kriegstagen gefallen, eine Klassenkameradin hatte ein Bein verloren und ging an Krücken. Wir, die Übriggebliebenen, fielen uns weinend in die Arme. Dass ich auch meine Puppe Bärbel wiedersehen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Zusammen mit meinem Mann ging ich noch einmal alte Schulwege ab, kam in die Straße, in der wir gewohnt hatten, besah unser Haus von außen, in dem nun andere Leute wohnten. Dann wollte ich eine Nachbarin und Freundin meiner Mutter besuchen, die unterdessen über 80 Jahre alt sein musste. Ich fragte mich, ob sie wohl noch hier wohnen würde. Ich läutete an der Haustür. Sie war offen, und ein paar Stufen über mir stand auf dem Treppenpodest Frau Martha Treu. Nomen est omen! Sie erkannte mich nach 45 Jahren sofort und sagte: »Doris, ich wusste immer, dass du mich einmal besuchen wirst. Ich habe dir deine Puppe aufgehoben.« Und da saß meine Bärbel – auf dem Plüschsofa in einem niedlichen Kleidchen, das meine mütterliche Freundin gehäkelt hatte. Glücklich schloss ich Bärbel in meine Arme. Auf dem Bild bin ich mit ihr zu sehen.
Als ich wieder zu Hause war, schrieb mir Martha Treu, wie glücklich sie gewesen sei, dass sie mir meine Puppe persönlich hatte geben können. Mein Antwortbrief an sie aber kam mit einem lapidaren Vermerk des Postboten zurück: »Empfänger verstorben«.
Doris Meyer-Hahnen, Jever, Niedersachsen