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Anfänge

 

© Mahmoud Raouf Mahmoud/Reuters
© Mahmoud Raouf Mahmoud/Reuters

Vor einigen Wochen baten wir Sie, uns über Anfänge in Ihrem Leben zu berichten. Wir erhielten daraufhin viele, viele Briefe und Mails mit wunderschönen, mit traurigen, mit anrührenden Geschichten. Eine Auswahl der Antworten lesen Sie hier, im Community-Ressort von ZEIT ONLINE und im Dossier der aktuellen Ausgabe der ZEIT (S. 11–13) – zusammen mit einem Essay von Caterina Lobenstein zu diesem Thema.

Die Geburt

Semmelweis-Frauenklinik, Wien 1994. Ich bin Hebammenschülerin im ersten Ausbildungsjahr, und zu meinen Aufgaben gehört es, Frauen während der Wehen zu betreuen, Instrumente vorzubereiten und – nicht zu früh und nicht zu spät – die Hebamme zu rufen. »Der Muttermund ist vollständig, der Schädel auf plus zwei«, informiert mich die Hebamme über eine während meiner Mittagspause eingetroffene werdende Mutter und lässt uns allein. Die Frau sieht mich kaum an. Sie hat schon starken Pressdrang, es ist ihr erstes Kind.

Nicht nur sie ist unsicher, ich bin es auch. Die Hebamme kommt zurück. Ich bin erleichtert. Doch als die Frau auf dem Gebärhocker sitzt und schiebt und presst, sagt die Hebamme plötzlich zu mir: »Sie machen die Geburt.« Ich? Mein Herz klopft wild. Schnell ein steriles Tuch vorbereitet, warmes Wasser in die Schüssel geleert, die Handschuhe angezogen – dann bilden meine Hände zum allerersten Mal einen Dammschutz. Ich greife, ich halte, staune über die Kraft, mit der dieses Köpfchen sich seinen Weg bahnt. Immer noch rechne ich damit, im entscheidenden Augenblick weggeschubst zu werden. Die Ärztin im Hintergrund blickt skeptisch.

Noch eine, zwei, drei Wehen, dann kommt das Kind. Es kommt mit Schwung, ganz glitschig und… meine Hände nehmen den neuen Menschen in Empfang. Meine ungelenken Schülerinnenhände.
Ich lege das Neugeborene auf eine trockene Windel. Hilflos und ein wenig verzweifelt beginnt es jetzt zu weinen. Es ist ein Junge. Seine Mama nimmt ihn hoch und drückt ihn an sich. Heiliger Moment. Ich kämpfe mit den Tränen und schaue zu Boden, damit keiner mich sieht. Dankbarkeit erfüllt mein Herz.

Lisa Rakos, Wolfsgraben, Österreich

Der Leserbrief

Meine Gymnasialzeit in den fünfziger Jahren verstrich im Schweizer Neutralitätsnest ohne jegliche politische Willensbildung, die ersten Studienjahre verbrachte ich ebenso unpolitisch. Ein Semester in Mainz öffnete mir die Augen. Mir ging zum Beispiel auf, dass einzig in der Schweiz (und vielleicht noch in Staaten wie der DDR) Militärdienstverweigerer kriminalisiert wurden.

Unter dem Eindruck einer politisch äußerst wachen deutschen Studentenschaft schrieb ich meinen ersten Leserbrief. Auf dem zwischenzeitlich vergilbten Zeitungspapier stehen Sätze wie der, dass sich die »Mitverantwortlichkeit« der Schweiz am Gang der Welt nicht erschöpfen könne in rein merkantilen Beziehungen und dass der »Beitritt zur Uno ein notwendiger erster Schritt wäre«…

Dieser Leserbrief war der Startschuss für mein späteres politisches Engagement.

Romedi Arquint (Sozialdemokratische Partei der Schweiz), Chapella, Schweiz

Die Beichte

In der Christuskirche zu Rostock, wo ich nach meiner Priesterweihe von 1997 bis 2001 als Kaplan tätig war, fand samstagnachmittags eine Beichtstunde statt. Meine erste Beichte – ich hatte ein ähnlich mulmiges Gefühl wie viele Jahre vorher als Erstkommunionkind auf der anderen Seite des Gitters. Als die Tür aufging und jemand zu erzählen begann, legte sich meine Aufregung etwas.

Dann aber hörte ich, wie von einem Ganzkörpermassagestudio (!) in Rostock berichtet wurde – und spontan rief ich aus: »Wo soll das denn sein???« Eisiges Schweigen… Ich wusste, welch ein Fauxpas mir unterlaufen war, und mühte mich, das Beichtgespräch würdig zu Ende führen. Die Antwort blieb man mir an jenem Spätsommertag aber schuldig. Und in den vier Jahren dort habe ich das betreffende Studio auch nicht gefunden…

Pfarrer Felix Evers, Ratzeburg, Schleswig-Holstein

Der Kopfsprung

»Weißt du noch, als du das erste Mal vom Fünfmeterbrett gesprungen bist?«, fragt mich mein Neffe Alexander bei einem Familienfest. »Oh ja«, antworte ich. Damals, es ist fast 20 Jahre her, begleitete ich ihn und einen Freund ins Freibad, und plötzlich schlugen mir die beiden vor, doch auch einmal einen Sprung zu wagen. Irgendwie gefiel mir die Vorstellung, meinem Neffen mit einem Sprung vom »Fünfer« zu imponieren.

So machten wir uns auf den Weg zum Sprungturm. Schon beim Aufstieg war mir sehr mulmig zumute. Alleine wäre ich sicher umgekehrt. Aber so standen die Jungs am Beckenrand, bemerkten mein Zögern und feuerten mich an: »Das erste Mal ist immer das schwerste! Du schaffst das!« Schon im nächsten Sommer fand es mein Neffe nicht mehr so »cool«, mit der Tante Schwimmen zu gehen, und so blieb es bei diesem ersten Sprung.

Ellen Lang-Petroll, Riedstadt, Hessen

Das erste Mal

Es ist gut 45 Jahre her. Ich war 17 und immer noch Jungfrau. Meine Freundin und ich waren uns einig, dass dies unmöglich so bleiben könne. Zunächst einmal galt es, den richtigen Mann dafür zu finden: Er sollte genug Erfahrung mitbringen, um die Entjungferung gekonnt zu vollziehen. Außerdem sollte er in »festen Händen« sein – und der Akt ein einmaliges Ereignis.

Wir entschieden uns für Peter, liiert, Mitte 30, gut aussehend – und ein Freund der Eltern meiner Freundin. Das erste Gespräch führten wir zu dritt, um ihn für unser Vorhaben zu gewinnen. Er bat um eine Woche Bedenkzeit, bevor er zustimmte. Wir formulierten als Ziel eine »zärtliche Entjungferung ohne Schmerzen« und »das Erleben meiner Orgasmusfähigkeit« und vereinbarten, Stillschweigen über die Sache zu wahren. Wir besiegelten unser Abkommen mit einem Handschlag.

Meine Freundin und ich wählten einen Termin, entwickelten ein Alibi für meine Eltern, besichtigten (und fotografierten) das Bett in seiner Wohnung (das Foto hab ich heute noch).
Der Tag der Entjungferung war ein Samstag. Wir waren für acht Uhr bei meiner Freundin verabredet, von wo aus Peter mich abholte und in seine Wohnung brachte. Wir waren uns schnell einig, dass wir nicht lange warten, sondern direkt ins Bett gehen wollten. Peter machte seine Sache sehr gut: Beim ersten Mal pikste es zwar doch ein bisschen, aber ich konnte erahnen, dass diese Art der Betätigung mir einmal viel Freude bereiten würde. Nach einer gemeinsamen Dusche versuchten wir es noch einmal, und die gesetzten Ziele wurden vollumfänglich erfüllt. Am nächsten Morgen trafen wir uns mit meiner Freundin zum Frühstück und feierten das Ereignis.

Kurz danach zog ich in eine entfernte Stadt und verlor den Kontakt zu meiner Freundin. Bis ich Jahre später einen Brief von ihr erhielt, in dem sie mir von ihrer Heirat mit Peter berichtete.

Edeltraud B., Bangkok

Der Vater

Als ich meinem leiblichen Vater zum ersten Mal begegnete, war ich 37 Jahre alt. Im Normalfall lernt man seine Eltern bei der Geburt kennen, doch als Adoptierter verschiebt sich dieses Ereignis mitunter um Jahrzehnte – oder findet gar nicht statt. So erfuhr ich einige Jahre vorher bei der Suche nach meiner leiblichen Mutter – via Telefon vom Einwohnermeldeamt –, dass sie bereits mit 41 Jahren verstorben sei. Ich war damals 26 Jahre alt. Die Nachricht erschütterte mich so sehr, dass ich die Suche nach meinen Wurzeln wieder einstellte; zumal ich kurz zuvor auch meine Adoptivmutter verloren hatte.

Bei allem Guten, das mir meine Adoptiveltern fürs Leben mitgaben, auf bestimmte Fragen hatten sie keine Antwort für mich gehabt. Und doch drängten sich diese Fragen auf: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wer ist das, den ich jeden Tag im Spiegel sehe? Warum habe ich schwarze Haare, Schuhgröße 47 und absolut kein Talent für Zahlen? So wagte ich es schließlich, meinem leiblichen Vater einen Brief zu schreiben. Danach ging alles ganz schnell. Es kam ein Brief zurück, in dem er mir ein Treffen in einem kleinen Biergarten zwei Wochen später vorschlug. Dem Brief war ein Foto von ihm beigelegt. In meinem Kopf herrschte Ausnahmezustand.

Als ich am vereinbarten Tag auf dem Parkplatz des Biergartens aus meinem Auto stieg, waren es zwischen mir und meinem leiblichen Vater nur noch wenige Schritte zu gehen. Ich ging diese Schritte nicht als erwachsener Mann. Ich ging sie als Kind. Er saß an einem Tisch, und bereits in einer Entfernung, in der man eigentlich nur Umrisse von Personen sehen kann, wusste ich, dass er es war. Noch bevor ich ihn begrüßen konnte, sagte er mir, dass er mich schon von Weitem erkannt hatte. An meinem Gang. Obwohl er mich in seinem Leben niemals zuvor gesehen hatte. Trotz aller Anspannung herrschte eine vertraute Atmosphäre zwischen uns.

Ich hörte an diesem Tag viele Dinge: die Namen, Charakterzüge, Berufe, Talente, Krankheiten und Todesursachen meiner leiblichen Verwandtschaft. Ich erfuhr, wer meine Großeltern waren, und mein leiblicher Vater sah an diesem Tag zum ersten Mal ein Foto seines Enkelsohnes. Es war der Auftakt einer bis heute bestehenden intensiven und interessanten Beziehung.

Und endlich weiß ich, wer ich bin.

Oliver Michael Gutmann, Stuttgart

Der Auftritt

Im Frühjahr 1989 saß ich nichts ahnend in meiner Studentenwohnung, als das Telefon klingelte: »Um 15.30 Uhr soll im Michel die Krönungsmesse von Wolfgang Amadeus Mozart aufgenommen werden, die Sopranistin ist krank, und wir brauchen dringend Ersatz.« Der Michel, die bekannteste Kirche Hamburgs – einmal dort zu singen ist der Traum eines jeden Sängers, der sich mit Kirchenmusik beschäftigt. Zufällig hatte ich die Noten im Schrank, wenngleich noch nie gesungen, aber mit meinen 23 Jahren war ich selbstbewusst und unverfroren genug, den Auftrag anzunehmen.

So fand ich mich anderthalb Stunden später auf der Empore des Michels ein. Es ging erstaunlich gut, die Einwürfe im Kyrie, Gloria und Credo klappten reibungslos, und sogar die Sopran-Arie gelang mir ohne Aussetzer, aber plötzlich stieß ich auf zwei klein gedruckte Noten, die den Übergang vom Agnus Dei zum Dona nobis pacem bildeten, und wusste überhaupt nichts damit anzufangen.

Verwirrt fragte ich: »Was soll ich denn jetzt machen?« Woraufhin der Dirigent explodierte: »Sie können doch nicht in die Aufnahme reden!« Nun war es mit meiner Selbstsicherheit vorbei. Sooft wir die Stelle auch wiederholten, es wurde immer schlimmer, der Übergang wollte einfach nicht überzeugend gelingen. Tief beschämt ging ich nach Hause.

Aber wie durch ein Wunder – und obwohl sich nur die ersten drei Sätze der Krönungsmesse zur Veröffentlichung eigneten – verzieh man mir meinen Fauxpas. Seitdem habe ich mehrere hundert Male im Michel gesungen. Die Menschen dort, Kirchenmusiker, Chöre, Pastoren, Küster und Mitarbeiter, kenne ich teils seit vielen Jahren. Meine Kinder sind im Herrensaal herumgekrabbelt und gestillt worden und haben im Tragetuch geschlafen, während ich sang. Ein Leben ohne den Michel kann ich mir heute kaum noch vorstellen.

Julia Barthe, Hamburg

Der Frieden

Es war der 8. Mai 1945. Wir Geschwister standen auf dem beschädigten Balkon unserer Wohnung. Draußen war es vollkommen still, so still wie nie zuvor. Kein Flugzeug, kein Auto, kein Mensch auf der Straße.

Frieden, was war das denn? Wir kannten Alarm, Kommandos, Dienst, Feuerlöscher, Führerrede, Marschmusik, Schlangestehen; Frieden kannten wir nicht.

Wir nahmen unsere Instrumente und spielten die Haydn-Variationen über das Deutschlandlied, diese kostbare, missbrauchte, herzzerreißende Melodie. Tränen tropften auf meine Geige, ich weinte nicht, sie liefen einfach aus den Augen. Dann standen wir nur da. Es war der Moment einer nie erlebten Magie, und sie hatte mit dieser Stille zu tun. Wie auch immer Frieden sein würde, es würde gut sein.

Rosemarie Bottländer, Odenthal, Nordrhein-Westfalen

Der Liebeskummer

Als mein Vater 1929 Verwalter eines Gutes in Mecklenburg wurde, war ich gerade sechs Jahre alt, und weil ich noch nicht Platt sprechen konnte, verbrachte ich viel Zeit allein auf der Dorfstraße. Dann fand ich einen Spielgefährten, er hieß Hans Gerstenkorn und war der Sohn des Schweinemeisters.

Wir stöberten durch den Gutspark, kletterten auf die große Douglasie und fanden gelegentlich ein Nest mit Eiern. (Statt sie sich im Stall wegnehmen zu lassen, versteckten die Hühner sie oft unter den Büschen, in der Hoffnung, sie dort ausbrüten zu können.)

Ich schielte damals ein wenig und trug eine Korrekturbrille. Bei unseren ausgelassenen Spielen verlor ich sie irgendwo im Park. Meine Mutter hatte seit einigen Tagen einen Ausflug in den Zirkus mit uns geplant. Doch als ich den Verlust der teuren Brille beichtete, hieß es, ich müsse erst die Brille wiederfinden, sonst dürfe ich nicht mit.

Ich bat Hans Gerstenkorn, mit mir zu suchen. Er machte mir deutlich, dass er dazu gar keine Lust habe, und verdrückte sich, obgleich ich ihn beschwor, er sei doch auch schuld, wir hätten ja zusammen gespielt, als die Brille verloren ging! Es half auch wenig, dass ich auf unsere nun schon den ganzen Sommer bestehende Freundschaft hinwies. Während die Geschwister mit meiner Mutter im Zirkus waren, saß ich zu Hause im Kinderzimmer und heulte.

Mein Herz hatte eine erste kleine Schramme bekommen.

Mechtild Becker, Pritzwalk

Die Depression

Monatelang Herzrasen, Schlaflosigkeit, Gewichtsabnahme, Durchfälle, Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindel. Ein endloser Ärztemarathon ohne greifbare Ergebnisse. Im Mai 2010 dann Notaufnahme im Krankenhaus und die Diagnose: Depression.
Mich trifft der Schlag. Depression? – Ich??? Ich soll an Depression erkrankt sein? Ich, die ich immer heiter war? Ich, »die fröhliche Susanne«? (Ein Kinderbuch, das ich als Kind verschlungen habe…) Gleichzeitig spüre ich, dass ich dem Kern meiner Probleme näher komme. Somatisch ist alles abgeklopft, meine Psyche braucht Hilfe. Geahnt hatte ich so was schon, aber nun erstmals ausgesprochen – noch dazu von einer Expertin –, ist es etwas anderes. Ich bin der Psychiaterin im Krankenhaus dankbar, die Unsicherheit hat ein Ende.

Doch dann kommt die Scham: »Die ist psychisch krank. Die hat einen Knacks, die kriegt’s nicht hin…« Panik macht sich breit: Brauche ich jetzt Medikamente? Wenn ja, wie wirken die? Wenn nein, was brauche ich dann? Was heißt Therapie? Und immer wieder: Warum ich? Als ich das Buch Brief an mein Leben lese, in dem Miriam Meckel über ihr Burn-out berichtet, gerate ich in einen regelrechten Strudel.

Sieben Monate Krankschreibung, zu Hause sein, Medikamente, wöchentliche Therapie und viele, viele Fragen, auf die ich erst im Laufe der Zeit Antworten bekomme.

Es dauert eine Weile, bis ich es erstmals selbst aussprechen kann, dass ich wohl an Depression erkrankt bin. Noch länger, bis ich es sagen kann, ohne in Panik zu geraten. Ich bin überwältigt.
Ich bin heute 37 Jahre alt, Mutter eines fünfjährigen Sohnes, ich arbeite in Teilzeit bei einem internationalen Unternehmen. Inzwischen (seit gut drei Jahren nun) kann ich die Depression annehmen und lebe gut mit ihr.

Ich habe die Krankheit im Griff – und nicht mehr sie mich.

Susanne Volkwein, Darmstadt