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Wiedergefunden: Der Pulli

 

Vor einiger Zeit fiel mir beim Kleiderschrankaufräumen ein grauer Pulli in die Hände, der einmal meinem Vater gehört hatte. Mein Vater ist bereits vor achtzehn Jahren gestorben, den Pulli haben zunächst ich und später mein Mann getragen, bis er schließlich in den Tiefen des Kleiderschranks verschwand. Als ich ihn auseinanderfaltete, wurde mir nach langer Zeit wieder bewusst, dass der rechte Ärmel immer überflüssig gewesen war, denn der Arm, den er hätte kleiden sollen, war weg.

Mein Vater hatte für mich immer nur einen Arm, und zwar den linken. Den rechten hatte er mit siebzehn Jahren an der Ostfront verloren. Und natürlich war da immer die kindliche Frage, wie man denn seinen Arm verlieren kann, einfach so, und dazu noch den rechten? Andere Leute verlieren ihr Taschentuch oder ihre Geldbörse, mein Vater seinen Arm. Natürlich fehlte der Arm meines Vaters, zum Beispiel beim Schuhebinden. Oder beim Frühstück: Ein Frühstücksei kann man nicht mit einem Arm essen. Manchmal nahm mein Vater mich abends mit zum „Versehrtenschwimmen“. Da waren dann nur Männer mit Stümpfen, und ich hätte diese unvollständigen Schwimmer gern nach ihren Armen und Beinen gefragt. Aber dazu reichte mein Mut dann doch nicht.

In den letzten zehn Jahren habe ich nach und nach registriert, dass die Zeit der „abben“ Arme und Beine vorbei ist: Die meisten der so durch den Krieg „versehrten“ Männer sind gestorben. Dann gab es im Fernsehen einen Film über Kriegsrückkehrer aus Afghanistan. Dort sah ich sie wieder, die Männer meiner Kindheit. Einer hielt mit dem verbliebenen Arm seine kleine blonde Tochter auf dem Schoß. Geschichte wiederholt sich eben doch. Leider.

Evelyn Meessen, Köln