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Wiedergefunden: Aishas Füße

 

Vor einigen Wochen suchte ich auf meiner Festplatte nach einer Fotografie. Früher suchte man in Alben oder Kartons nach Fotos, aber das ist vorbei. Heute sieht es auf meiner Festplatte genauso chaotisch aus wie früher in meinen Kartons. Deshalb fand ich nicht das Foto, das ich suchte. Aber ein anderes. Darauf sieht man Aishas Füße und einen gelben Zettel. Entstanden ist das Foto vor über zwei Jahren bei einem Theater-Workshop in der Kölner Oper. Aisha nahm als eine meiner Schülerinnen an diesem Workshop teil. Ich weiß noch, dass dieser Tag ein voller Erfolg war und dass Aisha das Foto so gut gefiel, dass sie es als Hintergrund für ihr Handy benutzte.

Ich hatte Aisha seit der Abschlussfeier nicht mehr gesehen, aber durch das Foto dachte ich wieder häufiger an sie und an ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Und dann stand sie auf einmal vor der Tür des Klassenraumes, in dem ich gerade unterrichtet hatte. Einfach so, nach der vierten Stunde, mit einer neuen Ponyfrisur und einer weißen Rose. Metaphysische Kräfte? Zuerst finde ich das Bild, nach dem ich gar nicht gesucht hatte, und dann steht Aisha plötzlich vor mir. Unglaublich! Wir umarmten uns, sie schenkte mir die Rose und machte – wie immer – nicht viele Worte. Sie war schon früher ein zurückhaltendes Mädchen gewesen, jetzt war sie eine zurückhaltende junge Frau. Sie werde im nächsten Jahr ihr Abitur machen, erzählte sie, vielleicht würde sie danach studieren. Es gehe ihr gut, sie käme zurecht. Wir plauderten ein bisschen, dann musste ich wieder in den Unterricht. Ich wünschte Aisha viel Glück auf ihrem Weg. Mit ihrem „Migrationshintergrund“ wird sie es schwerer haben als andere junge Frauen. Dieses politisch korrekte Wortungetüm vermittelt nur wenig von der Realität, in der Aisha sich wird behaupten müssen. Aber sie wird ihren Weg gehen, da bin ich mir sicher. Und ich freue mich, dass ich sie ein wenig auf diesem Weg begleitet habe.

Evelyn Meessen, Köln