In einer alten Fotokiste fand ich die Schwarz-Weiß-Aufnahme, die meine 2003 verstorbene Oma als junge Frau am Frankfurter Mainufer zeigt. Meine Großmutter hatte ihre ganze Jugendzeit in Frankfurt verbracht und schwärmte später noch oft vom Radfahren auf der Bockenheimer Landstraße und dem in der Luft liegenden Kaffeeduft, von der Schirn, vom grünen Innenhof des Wohnhauses in der Marburgerstraße 23 und vom Taunus. Besonders gern ging meine Oma ins Kino am Römer: War sie drin, blieb sie einfach sitzen und sah sich den Film noch mal an. Und ständig war sie verliebt, meine Oma. Nach der Zerstörung Frankfurts zog sie über Umwege nach Sachsen und kehrte nie wieder nach Frankfurt zurück – auch wenn sie oft davon träumte. Sie wollte die Stadt so in Erinnerung behalten, wie sie einmal war. Und so war ich denn auf den Spuren meiner Oma in Frankfurt am Main unterwegs und habe gejubelt, als ich den Ort der historischen Aufnahme fand. Ich fühlte mich ihr plötzlich viel näher als an ihrem Grab in Dresden. Ein wenig habe ich mich in Frankfurt verliebt – so wie einst meine Oma. Auch mein Schwager hat inzwischen dort Fuß gefasst, spielt Kontrabass in der Oper und fängt langsam an zu »babbeln«. Wie schön!
Stephan Bodinus, Dresden