Neulich mailte mir meine Mutter (76 Jahre), die ursprünglich aus Südtirol kommt: »Mein Liebes, Du brauchst heute Abend gar nicht versuchen bei mir anzurufen, ich bin auf der Schellrodl.« Was für ein treffendes Wort, um sich vorzustellen, wie jemand sich einen vergnügten Abend macht! Vergleichbar mit einer ausgelassenen Schlittenfahrt den Berg hinunter, begleitet vom Klang ganz vieler Glocken und Glöckchen.
Es gibt im Wienerischen viele treffende Begriffe. Eines meiner Lieblingswörter ist Schmähtandler. Ein Tandler ist ein Händler; der »Schmähtandler« also jemand, der mit Scherzen handelt. Das Wort hat etwas Weiches und Liebevolles. Manchmal nenne ich meine Tochter »Schmähtandlerin«, wenn sie fälschlicherweise behauptet, sie habe bereits Zähne geputzt.
Mein Vater, 102 Jahre alt, hat keine Magenschmerzen. Nein, er hat Leibweh. Ich glaube, wenn er nicht mehr bei mir ist, wird kein Mensch mehr Leibweh haben. Schade!
Eigentlich hat es ja nicht viel Sinn, der »guten alten Zeit« nachzutrauern, zumal sie ja auch gar nicht immer so gut gewesen ist. Wenn ich aber mal wieder (notgedrungen!) in ein Einkaufszentrum auf der grünen Wiese komme und der Lebensmittelabteilung mit ihrem unüberschaubaren Angebot einen Besuch abstatte, dann kommt mir doch das schöne, alte Wort Kolonialwaren in den Kopf. Und die Gedanken schweifen zurück in die Zeit, als die Gemischtwarenhandlung im Dorf neben den Dingen des täglichen Bedarfs auch Waren aus fernen Ländern anbot – und das alles auf engstem Raum.
Mir ist der Begriff Ingrimm ans Herz gewachsen. Der Duden versteht ihn als alte Form von »Grimm« und diese wiederum als ein mittlerweile ungebräuchliches Wort für Zorn. Wer grimmig schaut, erwirbt sich wenig Sympathien, wohingegen derjenige, der etwas mit Ingrimm tut, eine beachtliche mentale Transformation leistet: Er lässt den Grimm in sich wirken. Er bindet seinen heiligen Zorn an eine Aufgabe, die er nicht unbedingt gern tut, jedoch als notwendig und sinnvoll erachtet. Er schleudert seinen Zorn nicht aus sich heraus, sondern weiß ihn produktiv zu wenden: In weiser Voraussicht richtet er seine Energien auf das Zukünftige und nicht auf den momentanen Erfolg, und er hält die Spannungen aus, die das mit sich bringt. Im Ingrimm steckt die Glut der Leidenschaft für eine Sache, die man zu der seinen gemacht hat. Ist das veraltet?
Meine Mutter hat, soviel ich weiß, während unserer Kindheit keine Elternratgeber gelesen. Sie schenkte die Zeit, die sie hatte, uns Kindern lieber direkt: meinem Bruder und mir. Auch das Modewort »Entschleunigung« kannte sie nicht. Aber wenn wir morgens geweckt wurden, dann mussten wir nicht gleich aufspringen. Nein, wir durften ausbutzeln. Kein harsches »Aufstehen! Mach hinne!« vermieste uns den beginnenden Tag. »Ausbutzeln«, das bedeutete, langsam in den Tag hineinzublinzeln, sanft wach werden zu dürfen. Sich zu strecken und dann die ersten Gedanken auf den neuen Tag zu richten. Nach zehn Minuten wurden wir freundlich noch mal geweckt, und dann war alles ganz einfach.
Für mich hat das Wort unbill eine ganz besondere Bedeutung. Es hat zu tun mit Verlust, mit Misserfolg, Reinfall, auch Krankheit, also immer mit Schaden in all seinen Varianten. So versuche ich, in meinem Umfeld den Menschen und auch mir selbst jede Unbill zu ersparen.
Kürzlich hörte ich im Radio ein lange Zeit nicht mehr vernommenes Wort, nämlich Schuldiener. Der Historiker, der es benutzte, bestand darauf. Denn »Schuldiener«, laut Wörterbuch »veraltet«, ist eben doch nicht völlig bedeutungsgleich mit »Hausmeister einer Schule«. Die Respektsperson, die gleichzeitig eine dienende und manchmal eine komische ist, findet sich im Hausmeister weniger. In einem südhessischen Dorf aufgewachsen, habe ich das Wort Schuldiener lange und ganz selbst verständlich benutzt. Der Hausmeister begegnete mit erst im Gymnasium und der eher österreichische Pedell erst in der Literatur. Doch auch dort findet sich der Schuldiener wieder: Kafkas Landvermesser K. wird im 7. Kapitel ersatzweise und vorübergehend die Stelle eines Schuldieners angeboten. Er scheitert selbstverständlich.
Beim Probieren selbst gemachter Marmelade, des Geschenks einer netten Nachbarin, fiel mir das Wort deliziös ein. Klingt etwas abgehoben, ist schon lange, lange nicht mehr im Sprachgebrauch, aber allemal besser als »lecker«.
In meiner Kindheit hörte ich zuweilen meine Mutter bei der Arbeit singen: »Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus …« Das Wort Wiesengrund gefiel mir und blieb mir im Gedächtnis. Jahrzehnte später hörte ich das Wort wieder: In der Unfallklinik Murnau kümmere ich mich ehrenamtlich um Patienten wie den querschnittsgelähmten Herrn G. Aufgrund einer Komplikation war er monatelang ans Bett gefesselt. In dieser Zeit hat er mir viel aus seinem Leben erzählt – von seiner Familie, von sonntäglichen Wanderungen in seiner schwäbischen Heimat, von einem Wiesengrund, auf den er von einem Hügel hinabblicken konnte. Aufgrund seiner Behinderung sind die meisten dieser Orte für ihn heute unerreichbar. Herr G. las viel; niemals hörte ich ihn klagen. Er erträgt seine Krankheit mit Würde und Geduld.
Wiesengrund – ich stelle mir vor: ein grünes, schattiges Tal, ein gewundener Bachlauf, die Ufer gesäumt von Erlen und Weiden. Das laut Duden »veraltende« Wort wird wohl bald ganz vergessen sein. Doch seit ich es von dem schwerbehinderten Herrn G. wieder hörte, erinnert es mich an Kindheit und eine noch junge singende Mutter, an Heimat und Sommer, an die Schönheit auch des Alltäglichen, an das Glück eines ganz normalen Lebens.