Adele war etwa so groß wie unsere damals achtjährige Tochter, aber zehnmal so alt. Sie war unsere Nachbarin und die letzte Bewohnerin des mehr als hundert Jahre zuvor von ihrem Schwiegervater erbauten Hauses. Ihren Ehemann hatte Adele genauso wie ihren gemeinsamen Sohn um mehr als zwanzig Jahre überlebt. Das alles erfuhren wir aber erst, nachdem unsere Tochter diese kleine und große, gebeugte und aufrechte Frau mit dem Schalk im Nacken als Oma adoptiert hatte.
Dann starb Adele. Wir kauften das Grundstück. „Das Haus kann man nur abreißen“, sagten alle, die davon etwas verstanden. Unsere Tochter sagte: „Wir essen aber doch auch keine Tiere, deren Namen wir kennen.“ Drei Jahre lang haben wir entkernt, neu aufgebaut, erweitert. So reicht, was seinerzeit für eine achtköpfige Familie genügt hatte, nun auch für drei. Wenn jetzt jemand aus dem Dorf erklären soll, wo genau wir wohnen, dann sagt er: „Bei Adele.“
Im Februar 2002 kam ich zum ersten Mal in das kleine Küstendorf Amaduwa im Süden Sri Lankas. Ein junger Fischer hatte sich auf einer kleinen Landzunge eine Hütte aus Palmblattmatten gebaut. Die Zeit bis zum nächsten Auslaufen seines Bootes vertrieb er sich mit Handstandübungen, als ich ihn fotografierte. In den folgenden Jahren habe ich diesen Ort aus beruflichen Gründen immer wieder aufgesucht, so auch im Februar 2005.
Zwei Monate zuvor hatte der verheerende Tsunami das kleine Paradies verwüstet. Es war nichts mehr wie vorher: Die Palmblattmatten waren durch Wellblech und Folie ersetzt, und statt der hölzernen Auslegerkanus knatterten graffitidekorierte Kunststoffboote durch die Bucht. Ob unser Fischer die tödliche Welle überlebt hat, habe ich nie erfahren.
Wegen dieses Fotos von 1927 war ich an einem Karfreitag, genau 80 Jahre später, zu Besuch bei einer alten Dame. Ich suchte die genaue Perspektive! Aus ihrem Wohnzimmerfenster habe ich die „Wiedenbrücker Kreuztracht“ neu fotografiert. Ein Freiwilliger trägt bei diesem religiösen Brauch das Kreuz über Kopfsteinpflaster und vorbei an Fachwerkfassaden. Auch acht Jahrzehnte später stürzt der Kreuzträger an fast derselben Stelle.
Genau betrachtet, erschließen sich mir aber auch Veränderungen: Früher waren die meisten Menschen im Bild Teil des Ereignisses. Heute bleibt die Mehrheit in der Rolle des Zuschauers. Ich habe versucht, in den Blick des früheren Fotografen einzutauchen.
Durch die Suche nach dem exakten Blickwinkel habe ich mehr über meine Heimatstadt erfahren. Und ich habe die alte Dame kennengelernt, die mich in ihr Wohnzimmer ließ.