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Widerrede

(Nach Rainer Maria Rilke, »Herbsttag«)

Herr: gib mir noch Zeit. Den Sommer lass ich
ungern los.
’nen Schatten brauch ich höchstens in der Kur,
und auf den Fluren stör’n die Winde nur.

Befiehl den Gärten, dass sie uns weiterhin
erfreu’n;
schenk uns noch viele südlichere Tage.
Und das Rot der Kapuziner, es trage
noch weit in dieses Jahr hinein.

Wer jetzt schon auf die Leichtigkeit
verzichten muss,
wird unbeweglich werden, voll Verdruss.
Und wird auf seinem Tablet rastlos hin und her
bei Google, Facebook, YouTube kreuz und quer
nach Leben suchen, wenn die Blätter fallen.

Ute Schwarting, Plüderhausen, Baden-Württemberg

 

 

Was mein Leben reicher macht

Im Bus. Ein kleiner Junge zeigt auf mich und fragt seine Mama: »Du, ist das ein Fremder?« – »Ja, das ist eine fremde Frau.« Da strahlt mich der Kleine fröhlich an, stellt sich als Vincent vor und fragt mich, ob ich sein Freund sein will.

Sarah Kniep, Hannover

 

Futschikato: Mein Wort-Schatz

Ist etwas futschikato, ist es nicht so profan kaputt, nicht so hart zerstört, nicht so endgültig beschädigt und nicht so technisch defekt. Ein kindliches Schulterzucken liegt in dem Wort, über etwas, was nicht mehr ist und sich nicht ändern lässt. Ein bisschen Leichtigkeit im Augenblick des Verlustes. »Futschikato« tut gut!

Birte Surborg, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Neulich empfing mich meine Mutter (85) mit den Worten: »Heute habe ich einen Al-Kaida-Kürbis gekauft. Ich will eine Kürbissuppe kochen!« Erst schaute ich verdutzt, dann musste ich lachen: »Na, dann pass mal auf, dass dir nicht der Kochtopf explodiert!« Gemeint war natürlich ein Hokkaido-Kürbis; meine Mutter hatte sich den japanischen Namen nicht mehr so genau merken können. Die Suppe allerdings – verfeinert mit Apfelsaft, Kokosmilch, Curry, Ingwer und Chili – schmeckte uns ganz hervorragend!

Angelika Krieser, Berlin

 

Was mein Leben reicher macht

Tassengeklapper und Sommergeraune im gut besuchten Waldcafe, als eine laute Kinderstimme ein Lächeln auf die Gesichter der Gäste zaubert: “Ich will neben meiner lieben Oma sitzen!” Und die Oma bin ich.

Ulrike Bertram, Hannover

 

Das ist mein Ding

Darf ich vorstellen: eine schlichte und glanzlose Erscheinung, mit Kratzern, Dellen und Macken. Alt und grau. Mein Ding ist nichts Besonderes. Nur ein gewöhnlicher Blecheimer. Er gehört zu den ausgemusterten Dingen des Alltags. Trendresistent steht dieser Eimer immer noch da. Kein Plastikeimer kann ihm das Wasser reichen. Er ist gut in Form. Oben weiter als unten. Zum Himmel hin offen. Zum Glück nimmt er es mir nicht übel, wenn ich ihn mal im Regen stehen lasse. Vor sieben Jahren habe ich ihn aus einem dunklen Schuppen befreit und ans Licht geholt. Ich habe ihm quasi zu einem neuen Auftritt verholfen. Unzählige Fotoserien habe ich mit ihm gemacht. Mit ihm habe ich gelernt, das Gewöhnliche mit anderen Augen zu betrachten und die einfachen Dinge mehr wertzuschätzen. Es ist nicht der Alltag, der uns abstumpft. Es ist der Blick auf die Dinge, der sich abnutzt. Gerne lausche ich dem Blechgeflüster und entdecke die Poesie der einfachen Dinge. Und wenn ich aus dem Haus gehe, nicke ich meinem Blecheimer freundlich zu. Bisher hat er meinen Gruß allerdings noch nicht erwidert.

Elke Heldmann-Kiesel, Darmstadt

 

Was mein Leben reicher macht

Morgens im Bus, eine Schulklasse steigt ein. Zwei Jungen, vielleicht acht Jahre alt, unterhalten sich: »Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?« – »Das Ei natürlich! Die Dinosaurier haben doch schon Eier gelegt!« So einfach ist das.

Stephanie Helmling, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Unser abendliches Ritual: Ich sitze mit meinem dreijährigen Sohn im Bett, kraule ihm den Rücken, und wir erzählen uns Gutenachtgeschichten. Gleichzeitig stille ich meine wenige Wochen alte Tochter. Alle drei aneinandergekuschelt. Was kann es Friedlicheres geben?

Carolin Jalal, Saarbrücken

 

Zeitsprung

Alex und ich kennen uns schon lange. Wir sind zusammen aufgewachsen, wohnten fast nebeneinander, besuchten gemeinsam den Kindergarten und die Grundschule.

Durch einen gemeinsamen Freundeskreis verloren wir uns auch später nicht ganz aus den Augen. Doch als ich mich dazu entschloss, in einer anderen Stadt zu studieren, fiel es uns zunehmend schwer, den Kontakt zu halten.

Im Jahr 2010 fuhr ich während der Semesterferien wieder in die alte Heimat. Auf der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes sahen wir uns nach längerer Zeit wieder. Und es funkte. Nach mehreren Verabredungen wurden wir schließlich ein Paar. So konnten wir das Foto nachstellen, das damals auf der Treppe meines neu gebauten Elternhauses entstanden war.

Wir hoffen beide, dass es in 20 Jahren eine dritte Ausgabe geben wird. Vielleicht sogar zu dritt?

Laura Philipps, Trier

 

Was mein Leben reicher macht

Nach meinem Umzug in die Hauptstadt eines Abends gegen 23 Uhr zum ersten Besuch im weit entfernten Hotel Mama anzukommen, die vertrauten Gesichter vergangener Zeit um mich herum zu sehen und meine Mutter zu hören: »Johannes, hast du noch Hunger?«

Johannes Vollmer, Berlin