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Schneeflöckchen

Gestern in der vollgepackten Tram zwischen Findikli und der Galatabrücke: Aus dem Nichts piepst ein Stimmchen: „Schneeflöckchen, Weißröckchen…“ Vermutlich ein Kind, das in den deutschen Kindergarten gebracht wird. Und heute Morgen schneit es.

Erika Broschek, Istanbul

 

Lieber Herr Ramsauer,

© DAVID GANNON/AFP/Getty Images

drei verschneite Dezemberwochen lang kämpfte ich mich mit meinem Kinderwagen durch Berlin-Mitte, um meine Tochter in die Kita zu bringen. Kein Fußweg war geräumt. Andere Eltern nahmen den Schlitten, doch dafür ist meine Tochter noch zu klein. Ich habe viele Flüche in die Winterluft geschossen. Einziger Lichtblick: Ihr Verkehrsministerium in der Invalidenstraße. Immer perfekt gefegte Bürgersteige. Da war ich gleich doppelt so schnell. Danke! Übrigens: Mittlerweile hat die Umgebung von Ihnen gelernt, jetzt räumen auch die anderen.

Schöne Grüße, Inken Köhler, Berlin

 

Was mein Leben reicher macht

Ich hatte ein Spielzeug meines fast 2-jährigen Enkelsohnes Felix repariert. Mit zartem Stimmchen sagte er: “Dankeschön, Opa Dieter.“ Ich hätte dahin schmelzen können.

Dieter Herz, Hamburg

 

London, Kensington Road

Nur mit einem 20-Pfund-Schein ausgestattet nehme ich im Erdgeschoss eines roten Doppeldeckerbusses Platz. Kurz nach Abfahrt von der Haltestelle steht auch schon der uniformierte Ticket-Verkäufer mit Vollstreckerblick vor mir. Auf meine Frage, was ich ihm denn für meine beabsichtigte Strecke schuldig bin, vernehme ich: „One pound!“ Die Annahme meines 20-Pfund-Schein lehnt er mit dem Hinweis kein Wechselgeld zu haben ab. Auf mein: „Ist nicht mein Problem“ entgegnet er „doch“ und verweist auf die Hinweisschilder. Dort steht sinngemäß, dass die Fahrscheinverkäufer aufgrund häufiger Raubüberfälle kein Wechselgeld bereithalten und der Passagier das Fahrgeld passend bereitzuhalten habe. Ein in der Nähe sitzender freundlicher Brite, der die Dramaturgie erkennt und mich offenbar als Nichtangelsachse identifiziert, reicht mir wortlos eine Ein-Pfund-Münze. Mit einem mehrfachen „Thank you“ in Richtung des Problemlösers bedanke ich mich für die ausgezeichnete Völkerverständigung.

Thomas Fürbaß, Bad Schönborn

 

Kritzelei: blau-schwarz

Diese Kritzelei ist während einiger unerträglich langweiliger Schulstunden entstanden. Zwischendurch hat einer meiner Mitschüler den schwarzen Kugelschreiber kaputt gemacht, dann ging es mit Blau weiter. Eigentlich sollte ich ihm danken, denn nur in Schwarz wäre das hier nur halb so interessant ausgefallen.

Friederike Jahns, Hamburg

 

Insel der Glückseligen

Zu siebt am Vierertisch. Ich sitze mit drei meiner liebsten Kolleginnen in der Kulturkantine: zwei sind schwanger und die dritte wiegt ihre sechs Wochen alte Tochter. Der Fluss des Lebens. Und wir verbringen eine Stunde auf der Insel der Glückseligen.

Annette Heilemann, Nürtingen

 

Pass verloren, Freund gefunden

Anfang August. Ich steige aus dem Taxi am Busbahnhof von Lissabon. Nehme meinen Koffer und stelle fest, dass ich mein Sakko mit Reisepass und Handy im Taxi habe liegen lassen. An der Information reicht mir eine nette Dame ihr Handy, damit ich mein eigenes anrufen kann. Vielleicht antwortet der Taxifahrer. Negativ. Ich rufe vier Taxizentralen an. Negativ. Mein Bus nach Hause fährt ab. Ich gehe zum Taxistand und erkläre einem Fahrer meinen Fall. Er sagt, ich sollte zum Flughafen zurückfahren und mit der Polizei sprechen. Er fährt mich hin und lässt mich bei 2 Polizisten aussteigen.

Dort findet ein Polizist das Nummernschild meines Taxi heraus. Wir laufen an etwa 100 Taxis entlang, hören blöde Bemerkungen, finden das richtige Taxi aber nicht. Der Polizist läuft mit mir zum Terminal zurück und sagt, ich solle doch den Bus zum Busbahnhof nehmen, oder ein Taxi ab der Abflughalle, die sind dort billiger. Ich will mich erkenntlich zeigen. Er sagt: „Das ist mein Job“. Zwei Tage später schreibe ich an den Polizeichef von Lissabon.

Drei Tage vor Weihnachten ruft der Polizist mich an, er wünschst frohe Weihnachten. Ich frage, ob es eine Reaktion auf meinen Brief gab. Er sagt, ja deshalb rufe er an: Weihnachtsfest der Lissabonner Polizei, er wird auf die Bühne gerufen, mein Brief wird vorgelesen und es gibt Applaus und ein großes Weihnachtsgeschenk und eine zusätzliche Gehaltsprämie für ihn. Bevor er auflegt sagt er noch: „Wenn Sie wieder in Lissabon sind, rufen Sie mich an, dann gehen wir einen Kaffee trinken!“ Sein überraschender Anruf war mein schönstes Weihnachtsgeschenk.

Johan de Rie, Mértola, Portugal

 

Die Zeit schlendert

Zwischen den Jahren: Muße. Die Zeit schlendert, wo sie sonst meist galoppiert. Ruhe. Mit Freunden treffen, lesen, Musik hören, all die Dinge tun, die sonst wegen all des „Funktionierens“ keinen Raum haben. Zwischen den Jahren: die schönste Zeit im Jahr.

Karla Wagner, Bremen

 

Hier ist Afrika (14)

Es ist Abend. Nach einem Workshop habe ich ein paar junge Kolleginnen bei mir zu Gast: Ernestine und Anembom sitzen auf dem Sofa, Bahiya rekelt sich auf der Ottomane, Esther und Jose entspannen sich gemütlich im Sessel. Die Damen schauen sich um. „Wo ist denn dein Fernseher?“, fragen sie. Ich habe keinen Fernseher. „Du brauchst doch unbedingt einen Fernseher!“, rufen sie. Wozu soll ich ein Fernsehgerät brauchen? Ich habe doch ausreichend Bücher und Zeitungen! Ich deute auf meine kleine Bibliothek und die Stapel der ZEIT. „Du liest Zeitungen? Stimmt es denn, was da drinsteht?“ – „Na klar, überwiegend schon“, antworte ich. „Ist ’ne seriöse deutsche Zeitung.“ Aha. Nun ist die Überraschung auf ihrer Seite. Ob sie denn auch mal was lesen, will ich wissen. „Ja, schon“, antworten sie zögerlich. „Mal ’nen Roman, aber auf alle Fälle nie eine Zeitung“, bekräftigt Ernestine. Es seien alles nur Lügen, was in den Zeitungen stehe. Außerdem gehörten die Kamerunerinnen nicht zu den größten Leseratten, fährt sie fort. Wenn man etwas vor ihnen verbergen wolle, müsse man es in ein Buch schreiben.

Alle meine Kolleginnen haben ein Studium abgeschlossen. Ob sie denn an der Uni nichts gelesen hätten, will ich wissen, Lesen gehöre doch irgendwie zum Studieren. „Nur die Abschnitte, die wir für die Klausuren brauchten, haben wir gelesen“, erklärt Anembom. Vielleicht wäre ja alles anders, wenn es eine kamerunische Ausgabe der ZEIT gäbe.

Tabea Müller, 37, lebt im Nordwesten Kameruns. Als Sozialmanagerin berät sie Frauen, unterstützt ein Alphabetisierungsprogramm und andere Projekte. Seit drei Monaten erzählt sie auf dieser Seite über den Alltag im Inneren Afrikas. Dies war ihr letzter Bericht.