Seit 24 Jahren eine kleine Schwester zu haben. Ein einzigartiges Gefühl, diese Geschwisterliebe: hingebungsvoll, einnehmend, bedingungslos und über jede Distanz erhaben.
Bahnfahrt von Nürnberg nach Hamburg, Chaos durch Verspätungen. Hektisches Handy-Telefonieren ringsum und schimpfende Fahrgäste. Ich habe kein Handy dabei und frage eine Frau, ob ich ihres benutzen dürfe. Selbstverständlich. Doch es geht niemand dran. Ich gebe der Frau das Handy zurück. Wenige Minuten später bringt sie es mir wieder und sagt: „Jetzt hat’s geklappt!“ Sie hat die Wahlwiederholungstaste gedrückt. Anschließend telefoniert sie auf Serbokroatisch mit ihren Leuten. Geld will sie nicht annehmen: „Man hilft sich gegenseitig!“
Nach drei Stunden Warten bewegt sich der Bus endlich vom Fleck. Zwei Minuten später allerdings stirbt der Motor ab. Der Fahrer öffnet die Klappe im Boden neben seinem Sitz und guckt verzweifelt ins Getriebe. Schließlich steigen alle in einen anderen Bus, der eilig aus dem Depot herbeigebracht worden ist. Ein zerfleddertes Ding! Die Verkleidung klafft mir offen entgegen. Bei jedem Schlagloch und jeder Bewegung meines Vordersitznachbarn scheppert und knirscht der angeknackste Boden und biegt sich unter meinen Füßen nach oben. Der Fahrer rast wie ein Besessener. Ich habe böse Visionen: sich überschlagen, umkippen, mit der ganzen Kiste durch die Luft fliegen. Wenn der Fahrer die Kontrolle verliert, hab ich keine Chance. Keinen Gurt, keine Knautschzone, gar nichts. Gebrochenes Genick. Amputierte Beine… Meine Obduktion würde zutage fördern, dass ein schinkengefülltes Blätterteigteil (ein seltener Luxus aus der Boulangerie) meine letzte Mahlzeit war.
Plötzlich eine Polizeikontrolle. Der Fahrer muss aussteigen. Wir warten, schauen uns fragend an, dann begreifen wir das Unglaubliche: Dieser Fahrer ist betrunken! Ich mochte es auch nicht, dass er sich dauernd umdrehte und mit den Leuten auf den Sitzen hinter ihm quatschte oder aus dem Seitenfenster guckte statt nach vorn. Ich denke daran, was in Europa mit ihm geschehen würde. Aber ich bin in Kamerun. So weisen die Polizisten ihn an, eine Strecke zu rennen, um Alkohol abzubauen. Er trabt langsam dahin. Alle glotzen grinsend. Dann steigt er wieder ein und rast weiter. Und nach zwölfeinhalb Stunden sind wir endlich am Ziel – 400 Kilometer weit gefahren.
Seit fast zwei Jahren lebt Tabea Müller, 37, im Nordwesten Kameruns. Als Sozialmanagerin berät sie Frauen, unterstützt ein Alphabetisierungsprogramm und andere Projekte. Hier erzählt sie jede Woche über den Alltag im Inneren Afrikas.
Vier Jahre lang haben wir auf zwei uralten Anrufbeantwortern die Anrufe des damals achtährigen, aus Russland kommenden Enkelkindes gespeichert: Die ersten deutschen Sätze, die Freude an Päckchen, über Osterhasen, Nikolaus und Schnee und das Meer. Oft gehört, inzwischen auch miteinander, wenn die Enkelin aus Berlin zu Besuch kam. Sie sollte diese Anrufe zu ihrem 18.Geburtstag bekommen. Bei dem Versuch, die Aufnahmen anders zu speichern, löschte sich alles. Was diese verlorenen Worte, die Jauchzer und manchmal auch die Tränen auf den AB’s für uns bedeutet haben, wissen wir erst jetzt.
Meine 12-jährige Tochter: Sie liest beim Frühstück einen 8-zeiligen gereimten Werbetext des begnadeten Zeichners Manfred Deix und sagt ihn sofort anschließend auswendig auf. Ich sage ihr schmunzelnd, sie solle lieber das Lied von der Glocke lernen. Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort: „Jingle bells, jingle bells“. Ich liebe diese Art von Schlagfertigkeit.
Die Gesichtszüge meiner Mutter waren sehr ruhig geworden nach fast 88 Lebensjahren, nach jahrelanger Alzheimer-Demenz und jahrzehntelanger Depression. Wenn ich sie besuchte, war sie still, ihr Blick in die Ferne gerichtet. Ihre Hand in der meinen verlor täglich an Kraft. Doch auf einmal strahlte sie mich wieder an wie früher. Fünf Tage später wachte sie nicht mehr auf. Ihr Strahlen bleibt.
Die Kritzelei auf dem Deckblatt des Zertifizierungsantrages für unsere Schlaganfallstation entstand Ende September auf der Neurowoche in Mannheim, während ich drei Vorträge über die Alzheimerkrankheit hörte. Ich kritzele auch gern in Konferenzen, das erhöht meine Konzentration.
Martin Schabet, Ludwigsburg
Ein sonniger Nachmittag im Herbst. Tobias (7) und Mathis (5) wollen unbedingt mit Opa (72) Fußball spielen. Wir gehen auf einen kleinen Platz bei der Schule. Die Jungen spielen sich den Ball zu und Opa soll sie dabei stören. Bald kommt noch ein anderer Junge dazu. Jedesmal wenn ein Spielzug geglückt ist und ein Tor fällt, jubeln drei helle Stimmen. Nach 90 Minuten sind trotz einiger Pausen alle geschafft – Opa am meisten. Zuhause erzählen die Jungen begeistert und stolz wie viele Tore sie geschossen und wie sie den Opa „ausgetrickst“ haben.
Seit über drei Jahren sammle ich Fotos, die „Fehlstaben“ zeigen: Buchstaben, die verschwunden sind, aber doch dableiben, die in einem Wort fehlen, aber trotzdem lesbar sind. Oft ist das, was sie bezeichnen, längst fort. Oder immer noch da. So gibt es auch die Reihe „Duplex“, aus der dieses Bild stammt. Duplex-Fotos dokumentieren zwei aufeinanderfolgende Nutzungsphasen von Ladenlokalen. Die erste, ältere Beschriftung ist noch lesbar oder zumindest nachvollziehbar: Aus dieser kölschen Frühstücks-Kaffeebud’ wurde ein Kebap-Imbiss. Fehlstaben duplizieren die Botschaft.