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Selbstaufgabe des Wahlrechts ist freiwilliger Verzicht auf die Demokratie

 

Gabor Steingart, „Spiegel“-Journalist und Buchautor, hat kürzlich seine „Ansichten eines Nichtwählers“ im Münchener Piper-Verlag veröffentlicht. Am 19. März konnte er bei Maybrit Illner im ZDF für seine streitbaren Auffassungen werben. Die berechtigte Kritik am Zustand der politischen Parteien in Deutschland und die Sorge um die deutsche Demokratie führten Gabor Steingart zu einer Konsequenz, die für Demokraten nur verstörend sein kann: Verzichten wir auf unser Wahlrecht! Denn wer wählt, stimmt zu. Der Nichtwähler hingegen sendet den Parteien ein anderes Signal, nämlich das der Enttäuschung und Unzufriedenheit. Wer die Parteien zu Veränderungen und Reformen zwingen wolle, bleibe der Wahlurne also besser fern.

Bitte? Ein Aufruf zum Wahlboykott? Wir hören und lesen immer wieder von Appellen, die Teilnahme an Wahlen zu verweigern. Nur erreichen uns solche Nachrichten aus Ländern, in denen oppositionelle Kräfte drangsaliert oder im politischen Wettbewerb systematisch benachteiligt werden, in denen Wahlen der Akklamation von Herrschaft und nicht der Legitimation von politischer Führung dienen. Der Boykott von Wahlen ist in einem unfreien Regime ein legitimes Mittel des Widerstands. In freiheitlichen politischen Systemen ist eine Aufforderung zum Boykott von Wahlen aber ein Aufruf zum Boykott der Demokratie. Denn regelmäßige, faire, freie, gleiche und geheime Wahlen sind das Herzstück einer Demokratie. Das weiß auch Gabor Steingart. Ansonsten würde sein Vorschlag, „den“ Politikern in Deutschland mit einer großen Wahlenthaltung einen Denkzettel zu verpassen, jeder Logik entbehren.

Gabor Steingart ruft die Deutschen dazu auf, freiwillig auf ihr gutes und wichtiges Recht zu verzichten, ihre politische Führung selbst aussuchen zu dürfen. In Deutschland wurde das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer erst 1919 eingeführt und von den Nazis nur wenige Jahre später wieder abgeschafft. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist das allgemeine Wahlrecht in Deutschland nunmehr seit 60 Jahren garantiert. Historisch betrachtet ist das nicht mehr als ein Wimpernschlag. Die Ostdeutschen mussten auf dieses Recht sogar noch ein bisschen länger warten als die Westdeutschen und haben es sich vor 20 Jahren mit ihrem mutigen Aufbegehren gegen ein autoritäres Herrschaftssystem ertrotzt. Im Jubiläumsjahr der ostdeutschen Montagsdemonstrationen sendet Gabor Steingart damit ein Zeichen, das sich auch als ein Mangel an Respekt gegenüber der Tapferkeit vieler ostdeutscher Frauen und Männer interpretieren lässt, die für das Recht auf freie Wahlen viel und manchmal alles riskierten.

Die freiwillige Aufgabe des Wahlrechts ist kein Korrektiv, das die Parteien zur Reform zwingen könnte. Stattdessen wird freiwillig auf das Recht verzichtet, darüber mit zu bestimmen, wer uns regiert. Das ist gleichbedeutend mit einem Verzicht auf Demokratie. Offenbar dachten im Schnitt der vergangenen 20 Jahre 79 Prozent der deutschen Wählerinnen und Wähler genauso und gaben bei den fünf Bundestagswahlen, die in diesem Zeitraum stattfanden, ihre Stimme ab.