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Der vergangene Freitag in Stuttgart aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, oder: „Gut, dass mer gschwätzt hän“

 

AndreaDemokratien werden in den Sozialwissenschaften an (mindestens) zwei Kriterien gemessen: An ihrer Effizienz und an ihrer Responsivität. Das Regieren ist heutzutage durch trans- und suprantionale Zusammenschlüsse geprägt und steht unter dem Eindruck von Internationalisierung und Globalisierung. Die Themen und Problemlagen gewinnen dadurch an Komplexität. So ist der Aspekt der Effizienz in jüngerer Vergangenheit verstärkt in den Vordergrund gerückt: Wie können Staaten mit Blick auf die genannte Komplexität einerseits und ihre begrenzten Ressourcen andererseits die Ziele erreichen, die sie sich setzen? Darüber hinaus haben wir nun aber am vergangenen Freitag erlebt, wie wichtig auch die Responsivität nach wie vor ist: Ist der Staat in der Lage, Forderungen und Kritik seiner Bürger aufzunehmen und seine Entscheidungen klar zu kommunizieren? Lange wurde dieser Prozess als Kernaufgabe der Parteien verstanden. Der offene Dialog zu Stuttgart 21 zeigt nun aber neue Wege auf, wie man auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen kann.

Fassen wir den Freitag kurz einmal zusammen: Im Ergebnis nichts Neues, aber eine Art von Befriedung. Auf gut schwäbisch: „Es isch nix rauskomme, aber gut, dass mer gschätzt hän“! Positiv formuliert bedeutet dies, dass wohl in Zukunft kein Großprojekt mehr durchgeführt werden kann, ohne dass Bürgerinnen und Bürger in der Planungsphase ernsthaft und nachhaltig eingebunden werden.

Die konkrete Ausgestaltung dieser Prozesse muss kontinuierlich diskutiert und verbessert werden. Das Verfahren in Stuttgart ist vermutlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Für die Frage, wie solche Verfahren dauerhaft in die politische Entscheidungsfindung eingebunden werden können, lohnt der Blick in die Schweiz. Und zwar nicht auf die derzeit sehr populären Volksentscheide, die auch in Zusammenhang mit Stuttgart 21 immer wieder als Beispiel bemüht werden. Eher sollten wir von den Erfahrungen der Schweizer mit einem anderen festen Bestandteil ihrer Demokratie lernen: Das sogenannte Vernehmlassungsverfahren ist – Nuancen und Details beiseite gelassen – die Vorab-Prüfung eines Großprojektes durch alle relevanten Gruppen, Befürworter wie Gegner. In der Sprache der Schweizer Bundesbehörden geht es um „Vorhaben des Bundes von erheblicher politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und kultureller Tragweite“, die „auf ihre Akzeptanz, auf ihre sachliche Richtigkeit und auf ihre Vollzugstauglichkeit hin geprüft werden.“

Bürgerinnen und Bürger werden also schon bei der Ausgestaltung eines Projektes mit an Bord geholt – quasi in einer institutionalisierten Form der Bürgerbeteiligung. Dies ist nicht gleichzusetzen mit dem bei uns gültigen Planfeststellungsvefahren. Dies ist ein Verwaltungsverfahren, welches für Bauvorhaben vorgesehen ist. Die Bürger haben zwar die Möglichkeit, sich bei der zuständigen Anhörungsbehörde einzuschalten – allerdings nicht schon bei der Ausgestaltung des Plans, sondern erst nach der Veröffentlichung des Vorhabens. Dies ist ein erheblicher Unterschied.

Gehen wir also noch einmal zurück zum Freitag in Stuttgart: Ging es wirklich um Responsivität oder war das mehr eine kleine Demokratie-Show? Vermutlich beides. Man sollte jedoch zugestehen, dass sich momentan alle Beteiligten in einem Lernprozess befinden. Und dadurch ergibt sich eine spannende Situation, welche die Politik ansonsten so gut es geht zu vermeiden sucht: Unsicherheit. Natürlich haben der Ministerpräsident und viele andere stets betont, dass der Umbau des Bahnhofes im Kern nicht verhandelbar sei. Allerdings können das nicht einmal die zentralen Akteure wirklich einschätzen, weil sie schlichtweg zu wenig Erfahrung mit solchen Verfahren haben und somit auch nicht wissen können, welche Dynamiken sich im Zuge eines solchen „joint fact finding“ ergeben können – von der nächsten Stufe des Prozesses (über die ja bisher nur wenig bekannt ist) einmal ganz zu schweigen.

Insofern ist die Botschaft „Gut, dass mer gschwätzt hän“ gar nicht so gering, wie sie sich zunächst anhören mag. Denn solange geredet wird, können sich die Prozesse entwickeln – und werden uns vielleicht noch ein ums andere mal überraschen…