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Attraktive Kandidaten haben es leichter – bei Wählern und Journalisten

 

Vor kurzem berichtete das Handelsblatt darüber, dass gutaussehende Kandidaten bei Wahlen systematisch besser abschnitten als weniger attraktive Mitbewerber. Hübsche Menschen haben es also nicht nur auf dem Heiratsmarkt, vor Gericht und auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in der Politik vergleichsweise leicht. Zur Erklärung wird auf gut belegte Ergebnisse der Attraktivitätsforschung hingewiesen. Demnach schenken Wahlberechtigte hübschen Kandidaten mehr Aufmerksamkeit, schreiben diesen vorteilhafte Eigenschaften zu und sehen ihnen Fehltritte leichter nach als weniger ansehnlichen Bewerbern.

Es erscheint schlüssig, dass Menschen bei der Beurteilung von Politikern denselben Stereotypen unterliegen wie in anderen Situationen. Allerdings kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass Bürgern bei der Wahlentscheidung die äußere Erscheinung von Kandidaten so präsent ist wie etwa bei der Partnerwahl oder der Personalauswahl. Bei Hinterbänklern im Deutschen Bundestag ist das nicht selbstverständlich, erst recht nicht bei manchem Kandidaten kleiner Parteien. Man kann nicht einmal sicher sein, dass alle Bürger im Wahlkampf die Gesichter von Kandidaten auf Wahlplakaten so aufmerksam wahrnehmen, dass sie mit Bewerbernamen einen bestimmten Attraktivitätseindruck verbinden. Wenn sich aber nicht alle Bürger ein Bild vom Äußeren der Bewerber machen, wie kann man sich dann erklären, dass hübsche Kandidaten überdurchschnittlich gut abschneiden?

Eine Antwort kann in den Medien liegen. Medienberichte beeinflussen unsere Vorstellungen von der Realität, auch unsere Urteile über Kandidaten. Wenn attraktive Bewerber in der Berichterstattung besonders wegkommen und Bürger sich auf dieser Grundlage ihre Meinung bilden, könnte sich physische Attraktivität für Kandidaten selbst dann als Vorteil erweisen, wenn kein einziger Wahlberechtigter einen Bewerber zu Gesicht bekäme. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Journalisten eine angenehme äußere Erscheinung in ihrer Berichterstattung belohnen.

Dieser Frage sind wir in einer Untersuchung am Beispiel von sechs Tageszeitungen vor der Bundestagswahl 2005 nachgegangen. Dabei stellte sich zweierlei heraus. Zum einen gewähren Journalisten hübschen Kandidaten einen Aufmerksamkeitsbonus. Allein wegen der äußeren Erscheinung wurden über den schönsten Kandidaten in unserer Untersuchung während der letzten sechs Wochen vor der Wahl 35 Berichte mehr veröffentlicht als über den am wenigsten ansehnlichen Bewerber. Zum anderen wurde über hübsche Kandidaten deutlich wohlwollender berichtet als über weniger gutaussehende Bewerber. Physische Attraktivität beschert Kandidaten also einen doppelten Bonus. Dieser Bonus kann dazu beitragen, das überdurchschnittlich gute Abschneiden gutaussehender Kandidaten zu erklären.
Journalisten scheinen also denselben Wahrnehmungsmustern zu folgen wie andere Menschen. Warum sollte es auch anders sein? Schließlich sind auch Journalisten Menschen. Es gibt freilich einen kleinen, aber feinen Unterschied: Journalisten beeinflussen mit ihrer Berichterstattung die Vorstellungen vieler Menschen. Und so mag man den medialen Attraktivitätsbonus für wenig erstaunlich halten, ohne ihn deshalb als beruhigend zu empfinden.

Literatur
Marcus Maurer und Harald Schoen, 2010: Der mediale Attraktivitätsbonus. Wie die physische Attraktivität von Wahlkreiskandidaten die Medienberichterstattung in Wahlkämpfen beeinflusst, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 62, 277-295.