Wenn Guido Westerwelle auftritt, wird er oft als „Vizekanzler“ angekündigt, und manchmal bezeichnet er sich selbst so. Wenn man allerdings in unserer Verfassung nach dem Amt eines Vizekanzlers sucht, wird man nicht fündig. Teil 6 des Grundgesetzes (GG) legt die Rahmenbedingungen fest, unter denen die Bundesregierung gebildet wird, wie lange sie im Amt ist, welche zentrale Rolle ein Bundeskanzler bei all dem spielt und wie man den Bundeskanzler wählt oder wieder loswerden kann. Doch wo ist der Vizekanzler? Er tarnt sich offenbar als „Stellvertreter des Bundeskanzlers“ in Artikel 69 GG. Dort heißt es lapidar (Abs. 1): „Der Bundeskanzler ernennt einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter.“ Mehr ist in unserer Verfassung über den vermeintlichen Vizekanzler nicht geregelt.
Aber die Absätze 2 und 3 machen klar, dass es sich bei diesem Stellvertreter kaum um ein eigenständiges Amt handeln kann, denn das Amt eines jeden Bundesministers endet mit der „Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers“ (Art. 69 Abs. 2 GG). Der „Vize“, wenn man ihn denn so bezeichnen möchte, wird nicht etwa automatisch Nachfolger eines zurückgetretenen oder gestorbenen Kanzlers, wie dies beispielsweise mit dem Vizepräsidenten der USA der Fall ist. Sollte der Bundeskanzler aus dem Amt geschieden sein und der Bundespräsident ihn nicht ersucht haben, das Amt bis zur Wahl eines Nachfolgers weiter auszuüben, kann entweder der bisherige Kanzler oder der Bundespräsident einen Bundesminister ersuchen, die Geschäfte des Bundeskanzlers kurzzeitig weiterzuführen (Art. 69 Abs. 3 GG). Dass ein solcher Geschäftsführer der ehemalige Stellvertreter sein muss, ist nicht zwingend, auch wenn Walter Scheel als Bundesaußenminister und Stellvertreter im Frühjahr 1974 neun Tage lang die Geschäfte des zurückgetretenen Kanzlers Willy Brandt bis zur Wahl Helmut Schmidts führte.
Im Grundgesetz spielt der Stellvertreter des Bundeskanzlers demnach eine alles in allem vernachlässigbare Rolle. Doch vielleicht verleiht ihm die Geschäftsordnung der Bundesregierung nach Art. 65 Satz 4 ja größere Bedeutung. Dort heißt es in §8 immerhin: „Ist der Bundeskanzler an der Wahrnehmung der Geschäfte allgemein verhindert, so vertritt ihn der gemäß Artikel 69 des Grundgesetzes zu seinem Stellvertreter ernannte Bundesminister in seinem gesamten Geschäftsbereich. Im übrigen kann der Bundeskanzler den Umfang seiner Vertretung näher bestimmen.“ Demnach schlüpft der Stellvertreter nur dann in die Rolle des Kanzlers, wenn dieser „allgemein verhindert“ ist. Das kann schon einmal vorkommen, auch wenn der Kanzler bestimmen kann, inwieweit der Stellvertreter tatsächlich den Regierungschef „geben“ kann.
Guido Westerwelle, soviel ist klar, genießt die Rolle des Vertretungskanzlers und hat ihre Ausübung am 4. August 2010 sogar mit einer Pressekonferenz zu zweitrangigen Themen medial inszeniert. Das ist genauso neu wie die ständige Verwendung des Titels „Vizekanzler“ in und durch die Medien. Die bisherigen Stellvertreter eines Bundeskanzlers haben um ihre Vertretungsfunktion wenig Aufhebens gemacht, egal ob sie der FDP, der SPD, der CDU oder den Grünen angehörten. Eine Ausnahme mag es mit Jürgen Möllemann gegeben haben, der 1992/93 für immerhin acht Monate Stellvertreter des Bundeskanzlers Helmut Kohl war und mit dieser Tatsache ebenfalls nicht hinterm Berg hielt.
Ob nun Stellvertreter oder Vizekanzler, es handelt sich dabei um nicht mehr oder weniger als eine zusätzliche Funktion eines Bundesministers. Im politischen Alltag spielt die Stellvertreterfunktion selten eine Rolle und wird sich dann auch auf mit dem Kanzler abgestimmte Handlungen wie die Leitung von Kabinettssitzungen beschränken. Und falls der Kanzler endgültig abhanden kommt, wird der Bundestag binnen kurzer Zeit einen ganz neuen wählen. Es gibt also keinen sachlichen Grund, die Rolle des Stellvertreters des Bundeskanzlers immer wieder besonders hervorzuheben oder gar das eigentlich ausgeübte Amt, nämlich das des Bundesministers, das eine notwendige Bedingung für die Rolle des Stellvertreters ist, mit der Bezeichnung „Vizekanzler“ zu ersetzen. Will man sich fußballerischer Analogien bedienen, dann ist Philipp Lahm wahrscheinlich schon jetzt mehr Kapitän der Fußballnationalmannschaft als Guido Westerwelle je Kanzler der Bundesrepublik.