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Die Probleme des neuen Bremer Wahlrechts

 

Schon wieder eine historische Wahl in diesem Superwahljahr, dieses Mal in Bremen: Die SPD regiert seit mehr als einem halben Jahrhundert das Land – und wird den Stadtstaat auch weiter regieren. Die Grünen sind schon wieder Zweiter geworden. Historisch war auch die Wahlbeteiligung, leider wieder einmal historisch niedrig. Die Forschungsgruppe Wahlen sieht die Wahlbeteiligung vom Sonntag bei gerade einmal 56,6 Prozent.

Man hat sich an diese immer neuen Tiefststände fast gewöhnt. Man hat sich auch schon daran gewöhnt, dass an Wahlabenden eine pflichtschuldige Enttäuschung über die geringe Beteiligung öffentlich zur Schau getragen wird, um sich danach genüsslich den wichtigen Fragen des Wahlabends widmen zu können: Welche bundespolitischen Auswirkungen gehen nun von Bremen aus? Wäre nicht doch vielleicht Schwarz-Grün eine Machtoption für Bremen? Ist Philipp Rösler nun nach nur einer Woche schon „geschwächt“?

Und doch gibt es zwei Facetten rund um Wahlsystem und Wahlbeteiligung, auf die man in Bremen genauer schauen sollte. Zunächst zum Wahlsystem: Wie schon in Hamburg, so durften auch jetzt in Bremen die Menschen mehr Kreuzchen auf ihrem Stimmzettel machen, nämlich fünf an der Zahl. Sie durften das sogar über mehrere Parteilisten hinweg tun. Das erfolgreiche Volksbegehren „Mehr Demokratie beim Wählen“ hatte diese Änderungen auf den Weg gebracht. Und diejenigen, die zur Wahl gegangen sind, haben von ihren erweiterten Möglichkeiten eifrig Gebrauch gemacht, sagen die ersten Zahlen.

Aber: Was, wenn das neue Wahlsystem (manche) Menschen abgeschreckt hat? Wäre das nicht „weniger Demokratie beim Wählen“? Immerhin wissen wir aus vielen, vielen Studien, dass selbst das Wahlsystem bei Bundestagswahlen von vielen Menschen im Land nicht richtig verstanden wird, dass viele Menschen etwa glauben, die Erst- sei wichtiger als die Zweitstimme oder beide seien doch zumindest gleich wichtig. Man darf vermuten – auch wenn man bislang nicht allzu viel darüber weiß –, dass allen Informationskampagnen zum Trotz auch das neue Wahlsystem in Bremen mit ähnlichen Problemen behaftet ist.

Den Wahlsystemen inhärenten Zielkonflikt zwischen möglichst großem Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung der Parlamente einerseits, einer einfachen Handhabung und einer hohen Verständlichkeit andererseits sollte man jedenfalls mit einigem Abstand zu den Wahlen in Hamburg und Bremen noch einmal genau überprüfen. Die Gleichheit der Wahl ist ein hohes Gut, das ein abschreckendes Wahlsystem potenziell gefährdet. Es heißt ja „One (wo)man, one vote“ und nicht „one (wo)man, one potential vote„.

Auch das zweite Novum der Wahl birgt Probleme: Wählen durften dieses Mal nämlich auch die 16- und 17-Jährigen. Ob sie schon reif dafür sind, mögen andere diskutieren. Bemerkenswert ist vielmehr ein gängiges Missverständnis, von dem gestern auch in der FAZ zu lesen war: Die jungen Menschen durften erstmals; „die Wahlbeteiligung lag dennoch … so niedrig wie noch nie“.

Da kann man nur mit dem Kopf schütteln – allerdings weniger über die Bremer, sondern eher über die Kommentatoren. Wie soll die Wahlbeteiligung steigen, wenn einer Gruppe das Wahlrecht gegeben wird, von der klar ist, dass ihre Wahlfreude unterdurchschnittlich sein wird? Es gehört nun einmal zu den ehernen Gesetzen der Wahlforschung, dass die Wahlbeteiligung bis zur Altersgruppe der 60-Jährigen kontinuierlich ansteigt – und zwar kräftig. Zwar ist die Wahlbeteiligung bei Erstwählern immer etwas höher als in der nächst älteren Kohorte, aber sie ist und bleibt eben doch niedriger, gerade im Vergleich zu den silver voters. Insofern musste die Wahlbeteiligung zwangsläufig sinken – gerade weil die 16- und 17-Jährigen erstmals wählen durften, aber erwartungsgemäß eher wahlmüde waren (die Wahlbeteiligung wird aktuell auf knapp über 40 Prozent geschätzt).

Was lernen wir daraus? An ein, zwei Schräubchen des Wahlrechts zu drehen, reicht eben nicht aus, um das dauerhafte Problem der niedrigen und sinkenden Wahlbeteiligung zu lösen. Da helfen weder 5 noch 10 noch 20 Stimmen. Es hilft auch nicht, das Wahlalter auf 0 zu senken. Das Problem scheint tiefer zu sitzen. Selbst die Wahl in Baden-Württemberg, bei der alle gerade beglückt auf die gestiegene Wahlbeteiligung geschaut haben, ist ein Beleg dafür. Wenn trotz (vermeintlich) extremer Mobilisierung, trotz hoher Emotionalisierung, trotz knappen Wahlausgangs, trotz eines möglichen historischen Regierungswechsels nur zwei von drei Wahlberechtigen zur Wahl gehen (und einer von dreien eben nicht!), dann ist das ein schlechtes Zeichen.

Vielleicht gibt es doch eine Änderung, über die man einmal nachdenken sollte. Das Wahlsystem der Weimarer Republik ist viel gescholten worden, an vielen Stellen auch zu Recht. Aber eine interessante Facette hatte es ohne Zweifel: Für 60.000 Stimmen gab es einen Sitz. Was das mit Wahlbeteiligung zu tun hat? Die Anzahl der Sitze im Reichstag hing direkt von der Wahlbeteiligung ab. Je mehr Stimmen abgegeben wurden, desto größer war der Reichstag – und umgekehrt!

Eine Änderung des Wahlsystems auf Bundesebene steht in diesen Tagen ohnehin bevor. Das Verfassungsgericht hält das gegenwärtige Wahlsystem bei Bundestagswahlen nicht für verfassungskonform und hat eine Frist bis Mitte diesen Jahres gesetzt. Da aber noch keine Vorlagen wirklich auf dem Tisch liegen, könnte man eine solche Idee durchaus noch mitaufnehmen. Das würde einen schönen Anreiz in das Wahlsystem einbauen, damit sich alle nicht mehr bloß pflichtschuldig, sondern ganz ernsthaft mit der Wahlbeteiligung auseinandersetzen würden.