In den 70er und 80er Jahren war es ganz normal, heutzutage ist es eine nicht mehr für möglich zu haltende Vorstellung: Die etablierten Parteien konnten gemeinsam die übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für sich begeistern. Die Bezeichnung „Volkspartei“ für Union und SPD war gerechtfertigt.
Dieses Bild hat sich schon seit den 90ern kontinuierlich gewandelt, und als Begründung werden allzu häufig Politik- und Politikerverdrossenheit ins Feld geführt. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage wissen derzeit 30 Prozent der Wahlberechtigten nicht, ob sie zur Wahl gehen werden, weitere zehn Prozent würden sich für kleine Parteien deutlich unterhalb der 5-Prozent-Hürde entscheiden.
Dramatisch sind diese Zahlen freilich nicht. Die 30 Prozent „Politikverdrossenen“ sind vermutlich zumindest in Teilen für Botschaften zur Wahl empfänglich. Aus diesem Grunde ist der Begriff „Politikverdrossenheit“ auch überspitzt. Aus der Wahlforschung wissen wir, dass der größte Teil der Nichtwähler nicht aus Verdrossenheit und Desinteresse nicht wählen geht, sondern aufgrund mangelnder politischer Alternativen. Zumindest die zehn Prozent, die für kleine und Kleinstparteien stimmen wollen, drücken gleichwohl aus, dass das Parteienspektrum auch jenseits der etablierten Parteien breit ist und es durchaus Wahlmöglichkeiten gibt. Dazu kommt, dass die Mobilisierung von potenziellen Wählern eines der Hauptziele jedes Wahlkampfes ist. Die entsprechenden Planungen der Parteien laufen auf Hochtouren, und so könnte auch die Zahl der Nichtwähler am Ende geringer sein als der Anteil, den die aktuelle Umfrage ausweist.
Allerdings sind dies beides optimistische Argumentationen, und es lohnt sich ein Blick hinter die Fassade: Ist Wahlkampf tatsächlich politisches Werben, das die Bürger begeistern soll? Ist die Entscheidung für eine kleine Partei tatsächlich Ausdruck eines breiten demokratischen Angebots?
Wahlkämpfe haben viele Facetten und neben dem Herausstellen eigener Themen und Kompetenzen gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Gegner dazu. Es geht also um Mobilisierung des eigenen Lagers und um Demobilisierung des anderen, auch wenn letzteres seltener erwähnt wird. Gerade der Bundeskanzlerin wird ein Talent zur „asymmetrischen Demobilisierung“, also dem Ausbremsen des politischen Gegners und seiner Anhänger, zugeschrieben. Dergestalt enttäuschte Wähler gehen entweder nicht zur Wahl oder geben leere Stimmzettel ab oder wählen aus Protest andere Parteien. Auch das ist ein Erklärungsansatz für den hohen Anteil, den die sonstigen Parteien in der aktuellen Umfrage erreichen.
Welche dieser Interpretationen nun richtig ist, lässt sich schwer ermitteln – vermutlich tragen wie so oft verschiedene Faktoren zur Erklärung bei. Dennoch sollten die aktuellen Zahlen für die Parteien ein Warnschuss sein. Es ist nicht ohne Risiko, um eine Gruppe zu konkurrieren, die immer kleiner wird…
Literatur
H. Rattinger/E. Wenzel (2004), „Nichtwähler und Protestwähler – eine strategische Größe des Parteiensystems?“ in: H. Zehetmair, Hg., Das deutsche Parteiensystem: Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 28-44.