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Die Steuersenkungsdebatte – Wegweisung oder Wahlkampftrick?

Die Union diskutiert ihre steuerpolitische Ausrichtung. Während die Kanzlerin Steuersenkungen vorschlägt, um so die kriselnde Konjunktur zu beleben, warnen Parteifreunde vor solchen Schritten. So haben sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich zu Wort gemeldet und gemahnt, keine Wahlversprechen zu geben, die nach der Bundestagswahl nicht eingehalten werden können. Damit treffen sie den Nerv vieler Wähler, denn die Skepsis gegenüber Vorschlägen, die zu Wahlkampfzeiten geäußert wurden, ist traditionell groß.

Ist dieses Misstrauen berechtigt? Der sozialwissenschaftliche „Klassiker“ zur Frage der Übereinstimmung von Wahlprogramm und Regierungspolitik ist eine Studie von Hans-Dieter Klingemann, Richard Hoffebert und Ian Budge aus den 90er-Jahren, deren Erkenntnisse bis heute als wegweisend gelten. Die Forscher ermittelten (u.a. anhand der Ausgabenpolitik von Regierungen), dass die Politik besser ist, als ihr Ruf. Deutschland zählt demnach im internationalen Vergleich zu den Staaten, in denen politische Entscheidungen nach einer Wahl in hohem Maße auf den Wählerauftrag zurückzuführen sind: Die Wähler haben den siegreichen Parteien ein Mandat erteilt und diese setzen ihre Programme um (die so genannte „Mandats-These“). In anderen Ländern (etwa Frankreich oder Großbritannien) gilt hingegen tendenziell eher die „Agenda-These“: Es ist weniger wichtig, welche Partei einen bestimmten Vorschlag formuliert hat – nach einer Wahl setzt der Sieger die prominentesten Vorschläge um.

Natürlich wird auch in Deutschland nicht jedes Wahlversprechen erfüllt und kaum ein Koalitionsvertrag spiegelt die Wahlprogramme der beteiligten Parteien exakt wider. Der allgemeine Trend ist aber eindeutig: Parteien halten sich an Ihre Versprechen und versuchen, ihre politischen Forderungen nach der Wahl umzusetzen. Dass sich dennoch der Eindruck hält, dass Politiker ihre Wähler täuschen, ist nicht zuletzt der Logik des politischen Prozesses geschuldet: Konsense und reibungslose Kompromisse erfahren nicht die selbe Beachtung wie politische Streitigkeiten. Die Opposition wird sich auf diese Probleme beziehen, wenn sie die Regierung attackiert, und auch innerhalb der Koalition sind die Partner stets um Profilierung bemüht – die nächste Wahl kommt bestimmt…

Nichtsdestotrotz ist den Parteien bezüglich der Einhaltung ihrer Wahlversprechen ein gutes Zeugnis auszustellen. Die Wahlprogramme sind so formuliert, dass die Umsetzung, sprich: Finanzierung, möglich ist. Dies ist auch Resultat der innerparteilichen Demokratie, die einem Programmbeschluss voraus geht und unrealistische bzw. unseriöse Forderungen zumeist frühzeitig stoppt. Insofern können die Einwände aus der Union durchaus als konstruktive Beiträge verstanden werden. Für Ministerpräsident Tillich, dessen Regierung im Sommer selbst zur Wahl steht, ist dies zudem eine gute Möglichkeit, an Profil zu gewinnen und sich von den politischen Wettbewerbern in Sachsen abzuheben. Dass die Kritik am Wahlkampf auf diesem Wege selbst zu einer wirkungsvollen Wahlkampfaussage werden kann, ist eine weitere Besonderheit des politischen Prozesses.

 

Erstwähler-Feldzug im Internet: Wahlkampf auf studiVZ

Der Wahlkampf läuft im Internet bereits auf Hochtouren – ob auf den einzelnen Kandidaten- oder Parteiseiten, überall wird auf die kommenden Wahlen hingewiesen: bunt, frech, chic, kommunikativ. Ein neuer Schwerpunkt liegt dieses Mal sicherlich auf der Nutzung der sozialen Netzwerke wie Facebook oder MySpace. Seit heute finden wir die im Bundestag vertretenen Parteien nun auch auf studiVZ, der Internetplattform für Studenten und Schulabgänger – Erstwähler eben. Laut Angaben der Betreiber tummeln sich in den Netzwerken studiVZ, schülerVZ und meinVZ über 10 Millionen Wahlberechtigte, davon 70 Prozent aller Erst- und Jungwähler.

Und hier gilt es genau hinzuschauen: Das Internet wird nicht als „bloßes“ Kommunikationsmedium betrieben, über das billig und schnell Informationen übermittelt werden können. Das Internet ist Organisationsmedium. Parteien speisen ihre Themen und Botschaften in die sozialen Netzwerke ein. Hierdurch entsteht eine persönliche und direkte Wähleransprache. Und schon die klassischen amerikanischen Wahlstudien aus den 40er Jahren zeigen uns: Unentschlossene Wähler sind im persönlichen Gespräch am ehesten zu überzeugen. Neuere Erkenntnisse bestätigen dies. Wem es also gelingt, mit positivem Touch in den Alltag der Menschen vorzudringen, der ist schon fast am Ziel. Nun ersetzen das Internet bzw. soziale Netzwerke wie Facebook und MySpace nicht die politische Diskussion abends bei Bier oder Wein, aber sie ermöglichen die flächendeckende Organisation der direkten Wähleransprache. Dass diese Art der Kontaktpflege funktioniert, zeigen Untersuchungen zur Verweildauer im Internet und in sozialen Netzwerken. Weltweit steigt die Dauer des Aufenthalts in solchen Netzwerken weit überdurchschnittlich stark an:

Anstieg der Verweildauer im Internet und auf Facebook

Quelle: Fotostrecke zur Nielsen-Studie „Global Faces and Networked Places“ auf SPIEGEL ONLINE

Die Nutzer sehen im sozialen Netzwerk die Kommentare und Antworten von Mitgliedern ihrer Gruppen, aus ihrer community, zu bestimmten Politikern. Und das animiert bzw. überzeugt. In der politischen Soziologie wird in diesem Zusammenhang der Begriff Sozialkapital verwandt, das bestenfalls auch in langfristiges soziales Vertrauen mündet. Wenn ich einen Facebook-Eintrag von Kajo Wasserhövel oder Angela Merkel mit „Daumen hoch – gefällt mir“ kommentiere, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Freunde aus meinem Netzwerk, die vorher keine klare Meinung über diese Politiker hatten, sich meiner Meinung anschließen.

Aber: Irgendwann muss auch mal der Sprung von der online-Plattform ins reale Leben stattfinden. Die Wähler müssen die virtuell vermittelten Botschaften verinnerlichen und sich an sie erinnern, wenn sie in der Wahlkabine stehen. Denn bisher gilt immer noch: Nur dort kann gewählt werden.

 

Kurz, knapp, Merkel…

… so könnte man die Wahlkampfstrategie der CDU zusammenfassen. Bereits im Sommer letzten Jahres verkündete die Partei, einen Blitzwahlkampf ums Kanzleramt führen zu wollen. Als Muster galt die Kampagne von Ole von Beust in Hamburg. Im Gegensatz zur SPD, die vor wenigen Tagen den Wahlkampf eröffnet hat, möchte die Union ihr Programm erst Ende Juni vorstellen.

Der Fokus der Kampagne scheint unterdessen längst klar zu sein: Angela Merkel. Die Beliebtheit der Amtsinhaberin einerseits und die inhaltlichen Streitigkeiten der Unionsparteien andererseits legen eine Betonung der Person Angela Merkel nahe. Diese Strategie passt zum allgemein erkennbaren Trend der Personalisierung der Wahlkämpfe. Die Wähler richten ihre Wahlentscheidung zunehmend nach den Kandidaten aus.

Das Vorbild ist hier einmal mehr Barack Obama. Allerdings hat gerade seine Kampagne eines deutlich gemacht: Ohne Themen geht es nicht! Erst als der Kandidat Obama im Zuge der immer deutlicheren Krise das Thema Wirtschaft besetzen konnte, stiegen seine Umfragewerte. Erst dann lag er plötzlich vor John McCain.

Die Forschung sagt, dass in einem Wahlkampf Person, Partei und Programm zusammenpassen müssen. Zudem haben diese Studien auch gezeigt, dass es für eine Partei von Vorteil ist, früh mit dem Wahlkampf zu beginnen – so haben die Wähler mehr Zeit, diese Verbindungen von Personen und Inhalten (die „information shortcuts“) zu verinnerlichen. Für die Union heißt das, dass sie sich nicht allein auf die Beliebtheit und den Amtsbonus der Kanzlerin verlassen kann. Sie hat dadurch sicherlich einen Startvorteil. Aber ohne die passenden Inhalte wird sie diesen Vorsprung nicht halten können.

 

Dieter Althaus zurück im Amt

Gestern war es also soweit, Dieter Althaus hatte seinen ersten offiziellen Arbeitstag und stand den Medien Rede und Antwort. Wir haben diesen Moment alle mit Spannung erwartet. Es war offensichtlich, dass Althaus dem Rat seines engen politischen Umfeldes gefolgt ist, und das Schuldeingeständnis kam. Er trage schwer an der Schuld, hieß es aus seinem Munde, und ohne Zweifel, das glaubt man ihm. Es braucht hierzu auch keine großen Gefühlsregungen, wie von vielen erwartet wurde. Das Wort allein zählt.

Aber: Es ist letztendlich der Respekt vor der Tat selbst, vor dem was vorgefallen ist, was unwiderruflich ist. Dieser Respekt vor dem Geschehenen hätte Dieter Althaus schon längst dazu veranlassen sollen zu pausieren, den Wahlkampf auszusetzen. Wäre die Wahl in Thüringen erst nächstes Jahr, so wäre ein ruhigerer, unauffälligerer Einstieg in die Politik, in den Alltag von Dieter Althaus wieder möglich gewesen. Aber so ist es nun mal nicht. Immerhin ein Fünftel der Thüringer gab bei einer Infratest-dimap-Umfrage Ende März an, dass die Vorfälle um Dieter Althaus ihre Wahlentscheidung beeinflussen, und 36 Prozent fanden es nicht richtig, dass er wieder antritt. Ob sich diese Stimmung bis zum Wahltag im August auflösen wird, ist fraglich.

 

Die SPD eröffnet den Wahlkampf – mit einem nüchternen aber im Wahlkampf belastbaren Programm

Endlich dürfen die Sozialdemokraten wahlkämpfen – das machen sie gerne, manche nennen sie auch eine Kampagnenpartei. Im Gegensatz dazu ist die CDU Wahlkämpfen gegenüber eher skeptisch gestimmt – zu schmerzhaft sind da noch die Erinnerungen an 2005, als von einem zeitweilig sehr großen Vorsprung am Wahlabend quasi nichts mehr übrig blieb. Und auch in der Wahl davor hat sich die SPD als die Partei erwiesen, der es gelingt, ihre Anhänger auf den Punkt hin zu mobilisieren.

Das Wahlprogramm hat – kurz gefasst – zwei wichtige strategische Botschaften: klare Abgrenzung nach links und Koalitionsoptionen nach allen Seiten. Die Themenfelder sind klar abgegrenzt und eher nüchtern. Spannend wird sein, auf welche zwei bis drei Themen die SPD im Wahlkampf setzen und mit welchen Personen sie diese besetzen wird. Die Themenhoheit über die Familienpolitik wird der CDU mit Ursula von der Leyen nicht zu nehmen sein; in der Außenpolitik und im Krisenmanagement wird (trotz eines SPD-Außenministers) Angela Merkel sichtbar werden – was bleibt dann noch?

Warum positioniert sich die SPD in Zeiten großer wirtschaftlicher Verwerfungen und dem Ruf nach mehr Politik, nach der starken Hand des Staates, nicht klarer links? Scheut sie hier die Auseinandersetzung oder die Nähe gar mit Oskar Lafontaine? Und die zentrale Frage lautet: Warum ist so wenig Inhaltliches von Frank-Walter Steinmeier erkennbar? Natürlich: Wahlkämpfe streiten sich um „Brot-und-Butter“-Themen. Innenpolitische Themen stehen bei den Wählern ganz oben auf der Agenda. Aber als Vizekanzler kann er auch diese für sich beanspruchen. Es geht nicht um den Außenminister sondern um den Vizekanzler. Und der muss sichtbarer werden – nur so hat die SPD eine reale Chance auf ein respektables Ergebnis im September.

Frank-Walter Steinmeier muss dabei nicht mit Gerhard Schröder brechen, um sich zu positionieren. Er hat die Agenda 2010 mitgeschrieben und verantwortet, als Kanzlerkandidat wäre daher auch die Weiterentwicklung seine Aufgabe. Mehr Steinmeier hätte dem Programm gutgetan – im Sinne des Wahlerfolges.

 

Warum haben wir keinen Obama?

Sind wir doch mal ehrlich: So einen schicken, charismatischen Präsidenten hätten wir auch gerne. Einen, der uns begeistert, der die Welt begeistert und zu dem jeder (auf)schaut. Über den jeder spricht und sendet und schreibt. Die Reaktionen auf Barack Obamas Besuch in Europa haben wieder einmal unseren Wunsch nach charismatischer Führung gezeigt. Unser politisches System macht es aber schwer, uns diesen Wunsch selbst zu erfüllen – und vielleicht ist das auch gut so. Doch der Reihe nach:

In den USA wird der Präsident offen rekrutiert und selektiert. Er muss sich in der Rekrutierungsphase schon sehr früh die Unterstützung der Bevölkerung sichern. In Primaries (Vorwahlen) geht es darum, sich gegen Kandidaten aus dem eigenen Lager durchzusetzen. Mediale Qualitäten sind bereits sehr früh in der Bewerbung gefragt. In manchen Primaries sind es „nur“ die eigenen Parteimitglieder, manche amerikanischen Staaten haben aber auch offene Primaries, wo sich der Kandidat allen Bürgern stellen muss. Ohne Leidenschaft für das Amt und die Sache, ohne die Skills, auch in den Medien gut rüberzukommen, schafft es hier kaum jemand. Und dann ist da noch der große Show-down, die Presidential Election. Hier werden die Kandidaten direkt vom Volk gewählt (die Wahlmänner sind an das Votum der Wähler gebunden). Anders bei uns: Der Rekrutierungsprozess ist oft ein mühsamer, die Ochsentour durch die Parteien ist nach wie vor der zentrale Rekrutierungskanal des politischen Personals. Hier spielen nicht etwa mediale Qualitäten und Führungsstärke eine Rolle, sondern Sachkenntnis, Integrations- (und wohl auch Leidens-)fähigkeit, Verhandlungsgeschick und nicht zuletzt auch die Tatsache, den richtigen Moment abwarten zu können. Dies schließt zwar Charisma nicht aus, fördert es aber auch nicht gerade. Auf den ersten Blick sicherlich kein allzu attraktiver Weg für Politiker, die an großen Rädern drehen und klar abgezeichnete Karrierepfade und -optionen aufgezeigt bekommen möchten. Und auch die Kür unserer Spitzenkandidaten für das Kanzleramt ist nicht klar: „Der Parteivorsitzende hat das erste Zugriffsrecht“ heißt es so schön. Fest steht nur, wer keine guten Umfrageergebnisse hat, hat wenig Aussicht auf eine Kandidatur – wir alle erinnern uns noch an Kurt Beck.

Dennoch: In parlamentarischen Demokratien geht zum Glück kein Weg an den Parteien vorbei. Sie sind die zentralen Ausbildungsstätten der Politiker, das „training on and for the job“ findet hier statt. In Zeiten, in denen Politik immer vielschichtiger und komplexer wird, braucht es diese solide Basis. Hier werden weniger charismatische Führungsqualitäten gefragt, sondern Sachkenntnis, eine hohe Problemlösungskompetenz und Schnittstellenmanagement – also im Sinne Max Webers „rationale“ Qualitäten.

Das heißt nicht, dass das System nicht offener werden sollte: Wenn wir uns eines aus den USA abschauen sollten, dann ist es die Offenheit für Quereinsteiger – hier wird für politische Spitzenämter fachliches Spitzenpersonal aus Wirtschaft, Verwaltung, Medien und der Gesellschaft rekrutiert. Vielleicht wird die Personaldecke in der deutschen Politik bald so dünn werden, dass die Parteien quasi aus der Not heraus diesen Weg beschreiten. Schöner wäre es allerdings, die Positionen der Quereinsteiger würden überzeugen.

 

Münte als Allzweckwaffe

Bis auf weiteres kümmert sich also Franz Müntefering bei der SPD um die Familien- und Frauenpolitik. So war es der Presse in den letzten Tagen zu entnehmen. Klar ist: Themen müssen mit Personen besetzt werden – nur dann haben sie eine Chance, im Wahlkampf transportiert werden zu können. Und dies hat nichts mit Personalisierung auf Kosten von politischen Inhalten zu tun. Empirische Studien haben im internationalen Vergleich ergeben, dass mehr und mehr Themen mit Personen verbunden werden. So stieg der Anteil der Wahlkampfthemen, die von den Bürgern direkt mit einem „politischen Gesicht“ verbunden wurden, allein in Deutschland von unter 20 Prozent im Jahr 1960 auf über 40 Prozent in 2000.

Personen liefern den Bürgern einen „information shorcut“, sie sind leichter verdaubar und haben auch einen höheren Nachrichtenwert. Das beste Beispiel hierfür ist die Familienpolitik der CDU: Eigentlich war die Familienpolitik lange Zeit ein Thema, das von der SPD „besetzt“ wurde. Mit Ursula von der Leyen verdrängte die CDU die SPD allerdings – Ursula von der Leyen gibt dem Thema Familienpolitik ein überzeugendes und sichtbares Gesicht. Ein anderes Beispiel ist die fehlende Personalisierung bzw. die fehlenden Personalisierungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene: Uns allen wäre Europa vertrauter, europäische Themen eingängiger, wenn sie mit einem Gesicht verbunden wären.

Der familienpolitische Vorstoß von Franz Müntefering ist somit sicherlich sinnvoll, da die SPD in diesem Bereich präsenter werden muss. Ob er allerdings mittelfristig als „information shortcut“ dienen kann, darf bezweifelt werden. Münte ist sicherlich eine Allroundwaffe, aber zum Thema Familienpolitik muss die SPD noch etwas tiefer in die Personalkiste greifen…

 

Die hessische SPD bestraft sich selbst

Die Selbstzerstörung geht weiter: Die hessische SPD hat die Krise des letzten Jahres noch nicht überwunden, die Partei ist nach wie vor gespalten. An der Personalie Walter zeichnet sich dieser Tage die Konfliktlinie ab: Die überzeugten Anhänger eines Linksbündnisses, die im Jahr 2008 die Partei „auf Linie“ wähnten, stehen den Verfechtern des freien Mandats gegenüber.

Wir alle erinnern uns an den Auftritt der vier SPD-Abtrünnigen: Durch ihr spätes Nein zum Linksbündnis in Hessen haben sie Andrea Ypsilantis Versuch ausgehebelt, mit Duldung der Linkspartei eine rot-grüne Minderheitsregierung anzustreben. Hier galt es, Parteiräson bzw. innerparteiliche Disziplin gegen das freie Mandat abzuwägen. Ein schwieriger Spagat, keine Frage. Schließlich werden in Hessen ebenso wie auf Bundesebene in erster Linie Parteien gewählt und die Wähler orientieren sich an deren Programmen. Die Abgeordneten sollten sich also auch ihrer Partei verpflichtet fühlen – zumal Jürgen Walter selbst bei der Wahl 2008 kein Direktmandat erringen konnte.

Das freie Mandat ist jedoch ein hohes Gut, das nicht angetastet werden darf. Es kann einfach nicht Ziel einer Partei sein, ihre Mitglieder mundtot zu machen. Zu welchem Zeitpunkt man als Abgeordneter diese Karte zückt, muss jedem selbst überlassen bleiben. Der Einblick in die hessische SPD, der uns seinerzeit geboten wurde, war düster. Aber auch heute gibt sie kaum ein bessere Bild ab: Dem Urteil der Schiedskommission des SPD-Unterbezirks Wetterau folgte postwendend die Ankündigung einer Berufung. Vieles deutet also darauf hin, dass sich dieser Prozess noch eine Weile hinziehen wird – inklusive der schlechten Presse und der innerparteilichen Störungen. Dies kann nicht im Interesse der hessischen SPD sein. Das parteischädigende Verhalten, dass sie Walter vorwirft, betreibt sie damit selbst.

 

Leichte Annäherung im linken Lager?

Müntefering nimmt – zwar vorsichtig, aber immerhin – das Linke-Thema auf und versucht, aus den Fehlern seines gescheiterten Vorgängers zu lernen. Möchte man sich mittelfristig den Weg zur Macht nicht versperren, darf man eine Partei, die immerhin in den neuen Bundesländern schon nahezu Volksparteicharakter hat, nicht gänzlich ausblenden. Diese Ignoranz bzw. auch Arroganz auf dem linken Auge hatte die SPD bereits in den 80er Jahren gegenüber den Grünen – auch daraus sollte sie gelernt haben. Man errinnere sich nur an Holger Börner und seine Annäherung an die Grünen. Möchte man auf Bundesebene links der Mitte wirklich eine Regierung bilden, müssen langfristig alle Parteien innerhalb des demokratischen Spektrums mögliche Koalitionspartner sein. Nur so lässt sich die konservative strukturelle Mehrheit sprengen.

Die Gelegenheit hierfür scheint günstig, einer aktuellen Emnid-Umfrage zufolge scheint im Unions-Lager die Unterstützung für die eigene Partei zu schwinden. Da die SPD andererseits von dieser Entwicklung nur indirekt profitiert (die meisten CDU/CSU-Abwanderer wollen schlicht nicht mehr wählen gehen), liegt die Mobilisierung des eigenen Lagers nahe.