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Der unbekannte Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen

Es ist schon erstaunlich, was so alles über die deutsche Wählerin und den deutschen Wähler im Umfeld von Wahlen gesagt wird. Anhand einer Vielzahl von Instrumenten wird ihm oder ihr „auf den Zahn gefühlt“, so dass eigentlich jedem interessierten Journalisten, Politiker und Bürger klar ist, warum wer wen aus welchen Gründen gewählt hat. Dass diese Einschätzung oft auf zweifelhaften Quellen ruht, wie z.B. O-Ton-Aufnahmen in Fußgängerzonen, bleibt dabei häufig unbeachtet. So entstehen moderne Mythen über den deutschen Wähler, die sich trotz nicht unerheblicher Veränderungen bei den Wählern und in der politischen Landschaft hartnäckig halten. Ein politisches „Aufklärungsbuch“ hat sich solchen Mythen angenommen und stellt ihnen wissenschaftlich fundierte Aussagen entgegen. Im Einzelnen wird folgenden Fragen nachgegangen, auf die die Medien oft vorschnell eine Antwort finden:

Spielt Ideologie für Parteien und Wähler keine Rolle mehr? Gefährden Wechselwähler die Demokratie? Verliert die Demokratie ihren Nachwuchs? Entscheiden Spitzenkandidaten Wahlen? Sind TV-Duelle nur Show und damit nutzlos? Sind die Volksparteien am Ende? Ist die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie? Ist Ostdeutschland politisch ganz anders? Beeinflussen (getwitterte) Umfrageergebnisse Wahlentscheidungen? Verändern Große Koalitionen die Parteienlandschaft? Wie gehen die Wähler mit dem Bundestags-Wahlsystem um? Entscheidet die Wirtschaftslage Wahlen? Verhalten sich Frauen in der Politik anders? In erstaunlich vielen Fällen kommen die Autoren zu anderen Antworten als die Medien. Beispielsweise ist die Jugend von heute nicht weder interessiert oder desinteressiert an Politik als vor 30 Jahren und TV-Duelle helfen entgegen ihres Images, eine reine Show-Veranstaltung zu sein, gerade weniger interessierten Wählern bei ihrer Wahlentscheidung. Erstaunlich ist hierbei, dass in den Medien häufig ein negativeres Bild vom deutschen Wähler entworfen wird, als dies tatsächlich der Fall ist. Naheliegend ist daher, den Unkenrufen über den deutschen Wähler häufiger ein „Stimmt das denn?“ entgegenzusetzen.

Die Ergebnisse zu allen untersuchten Mythen sind hier zu finden: Evelyn Bytzek und Sigrid Roßteutscher (Hg.) 2011: Der unbekannte Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen, Frankfurt am Main: Campus.

 

Parteienlotto

Evelyn Bytzek„Ihr politischer Scharfsinn kann Sie reich machen“, damit wirbt die BILD-Zeitung für ihr Gewinnspiel zur Bundestagswahl 2009. Dem Gewinner winken bis zu 1 Million Euro, wenn er die Anteile der fünf jetzt im Bundestag vertretenen Parteien bis auf die erste Kommastelle genau vorhersagt. Neben der Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Treffer ist, interessiert Wahlforscher an einem solchen Gewinnspiel vor allen Dingen, wie präzise die Erwartungen der Wähler in Hinblick auf den Wahlausgang eigentlich sind. Dies spielt nicht nur für so profane Dinge wie die Menge Geld eine Rolle, die man gewinnen kann. Auch dafür, welchen möglichen Koalitionen man eine Mehrheit nach der Wahl zutraut, sind solche Einschätzungen wichtig. Hierfür müssen die Schätzungen nicht so genau sein wie für das BILD-Gewinnspiel, daher werden die Wähler in Umfragen meist nicht mit dieser Frage gequält.

In einer, zugegebenermaßen nicht repräsentativen, Online-Befragung haben wir dieses Experiment nun aber doch einmal gewagt und folgende Ergebnisse erhalten: Vergleicht man die Mittelwerte für die Parteien aus dieser Befragung mit zeitnahen Ergebnissen zweier Umfrageinstitute, könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich demnächst viele Wähler über einen Geldgewinn freuen dürften.

GLES-Schätzfrage

* Online-Erhebung im Rahmen der German Longitudinal Election Study, Feldzeit: 31. Juli bis 10. August 2009.
** Telefonische Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen e.V. Mannheim, Feldzeit: 4. bis 6. August 2009.
*** Telefonische Erhebung von Infratest dimap, Feldzeit: 3. bis 5. August 2009.

Diese erstaunlich gute Einschätzung der Befragten zum Abschneiden der Parteien dürfte aber der „Weisheit der Vielen“ geschuldet sein. Demnach ist der Mittelwert aus den Schätzungen vieler Menschen erstaunlich präzise und häufig besser als der beste Einzelwert. Betrachtet man sich die Genauigkeit individueller Schätzungen, muss zunächst gesagt werden, dass man bei unserer Umfrage keine Million Euro gewinnen konnte. Daher ist der Anreiz für die Befragten gering, eine möglichst genaue Schätzung abzuliefern. Zudem wurden keine Dezimalzahlen angegeben. Da bei diesem Experiment nicht festzustellen ist, wie das korrekte Ergebnis aussieht, lassen wir sowohl die Politbarometer- als auch die DeutschlandTREND-Zahlen gelten. Durch die Hilfestellung, zwei „Wahlergebnisse“ zuzulassen, und der geringeren Zahl an Möglichkeiten durch das Fehlen von Dezimalzahlen, hätten zwei Befragte mit fünf Richtigen den Jackpot geknackt. Gerade mal 0,4% haben präzise Schätzungen für mehr als vier Parteien geliefert, 1,7% haben mehr als drei Richtige und 12,6% mehr als zwei Richtige. Aber immerhin die Hälfte der Befragten schätzt den Anteil einer Partei korrekt ein. Wenn dies die Partei ist, die für den Wähler zählt, ist das Einiges wert, wenn auch damit keine Million Euro zu gewinnen ist.

 

Mythos Leihstimme?

Evelyn BytzekMit Umfragewerten von mindestens 15% in den letzten beiden Monaten ist es unwahrscheinlich, dass die FDP im kommenden Wahlkampf auf eine Leihstimmenkampagne setzt. Anders als zur Bundestagswahl 1983 wird sie die Wähler wohl nicht mit einem Rechenbeispielen à la

CDU/CSU 47% + FDP 4% = 47% und keine CDU/CSU-Regierung!
CDU/CSU 46% + FDP 5% = 51% und eine CDU/CSU-FDP-Koalition!

beglücken. Auch wenn die FDP bei vergangenen Bundestagswahlen anscheinend erfolgreich mit ihrer Leihstimmenkampagne war (denn warum sonst haben die großen Parteien die Zweitstimme zur Kanzlerstimme erklären lassen?), ist es wissenschaftlich umstritten, ob das Phänomen Leihstimme tatsächlich existiert.

Denn neben dem Wunsch einer schwarz-gelben Regierungskoalition muss ein CDU- oder CSU-Wähler auch den Eindruck gewinnen, dass die FDP ohne seine Hilfe, seiner Zweitstimme, den Einzug in den Bundestag verpasst. Denkt er dagegen, dass die FDP es sicher schafft, schwächt er mit einer Leihstimme für die FDP seine eigentlich präferierte Partei, die CDU/CSU. Und besteht der Eindruck, dass die FDP keine Chance auf den Einzug hat, verschwendet er seine Stimme. Doch dass der Eindruck, der Einzug der FDP stehe auf der Kippe, für die Vergabe einer Leihstimme entscheidend ist, konnte bislang nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Dies kratzt am Bild des strategischen Wählers, der genau weiß, was er will, wie die Chancen dafür stehen und wie er zu seinem Ziel gelangt, auch wenn dafür Umwege, also Leihstimmen, notwendig sind. Die Suche nach diesem Typ Wähler ist oft mühselig und die bevorstehende Bundestagswahl scheint zumindest in Hinblick auf den Mythos „Leihstimmen für die FDP“ kein gutes Terrain abzugeben. Interessant ist dagegen, mit welchen Strategien die FDP versuchen wird, ihr derzeitiges Popularitätshoch zu nutzen, um glaubwürdig einen dritten Kanzlerkandidaten zu inszenieren.