Bis weit in die 1980er Jahre hinein war auf die deutschen Wähler Verlass. Es gab zwar hin und wieder einmal Schwankungen der Wahlergebnisse, aber die Regierungsparteien blieben meist die alten. Kam es zu Regierungswechseln, waren dies mit wenigen Ausnahmen Eliten- und nicht Wählerentscheidungen. Der Wahlforscher Dieter Roth zählte bis 1987 bei 100 Landtagswahlen lediglich sieben Regierungswechsel (7%), die durch die Wähler herbeigeführt wurden. Von 1987 bis 2005 waren es bei 69 Landtagswahlen jedoch schon 22 (32%). Die Bundestagswahlen 1998 und 2005 sind die bislang einzigen Belege für durch die Wähler erzwungene Regierungswechsel auf Bundesebene. Die gängige Interpretation für diese Veränderungen ist: Durch die Auflösung von Milieus, Bedeutungsverluste von Kirchen und Gewerkschaften sowie nachlassende Parteibindungen habe sich die Parteienlandschaft verändert, sodass es zu stärkeren Schwankungen der Parteianteile komme und Wahlausgänge weniger gut vorhersehbar würden.
Soweit ist diese Diagnose Konsens. Doch sollte man nicht soweit gehen zu behaupten, es gäbe kaum noch parteigebundene Wähler und die Wahlforschung könne zum einen nichts mehr vorhersagen und damit zum anderen getrost einpacken. Knapp zwei Drittel aller Wahlberechtigten, die in den letzten drei Jahren von der Forschungsgruppe Wahlen interviewt wurden, geben an, langfristig einer Partei zuzuneigen (sie haben eine sogenannte Parteiidentifikation = PI). Wie das Diagramm zeigt, gaben unmittelbar vor der Bundestagswahl 2005 über zwei Drittel der Wähler von SPD und CDU/CSU an, der Partei auch langfristig zuzuneigen. Und weniger als ein Drittel der Wähler sämtlicher Parteien gab an, nicht an eine Partei gebunden zu sein. Parteigebundene Wähler sind demnach eindeutig in der Mehrzahl: Welche Parteien sie im September wählen werden, wissen wir zum größten Teil schon jetzt.
Wahlentscheidung 2005: Anteile der Wähler…
Zweitstimme, Angaben in Prozent. Quelle: Dieter Roth/Andreas Wüst, Abwahl ohne Machtwechsel, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm, Bilanz der Bundestagswahl 2005, S. 68.
Für jede Partei und noch besser für jedes potenzielle Koalitionslager lässt sich so eine Art „Wählersockel“ bestimmen. Denn was wir heute noch nicht wissen, ist das Ausmaß koalitionstaktischen Wahlverhaltens. Wie das Diagramm zeigt, erhielt vor allem die FDP Unterstützung von Anhängern anderer Parteien (bei genauerer Prüfung fast ausschließlich von Anhängern der CDU und der CSU), in deutlich geringerem Umfang ebenso die Grünen sowie die Linke (hier: primär von SPD-Anhängern). Das Ausmaß koalitionstaktischen Wahlverhaltens lässt sich bestenfalls wenige Wochen vor der Wahl abschätzen. Und noch später wissen wir, wie sich die Ungebundenen entscheiden werden. Möglicherweise ist diese Minderheit der ungebundenen Wähler letztlich wahlentscheidend. Aber auch sie sind für die Wahlforschung keine Unbekannten: Sie lassen sich über Gruppenmerkmale, ihre individuellen Sorgen, wahrgenommene Probleme, den Parteien zugeschriebene Lösungskompetenzen und auch durch Präferenzen für Politiker, insbesondere für die Kanzlerin oder den Herausforderer, trotz allem passabel verorten. Je näher die Wahl rückt, desto geringer wird die Anzahl der „Unbekannten“ werden. Ein Grund für Wahlforscher, das Feld zu räumen, sind ungebundene Wähler wahrlich nicht.