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Der deprimierendste Ort der Welt.

 

Hinter der Warschauer Brücke, da wo noch ein alter Mauer-Wachturm steht und die Puschkinallee beginnt, dort gibt es den möglicherweise deprimierendsten Ort Berlins. Er wird offiziell deklariert als überdachter Antik-und Trödelmarkt. Das Besondere an diesem Antik- und Trödelmarkt ist allerdings, dass es hier weder Antiquitäten, noch Trödel gibt, sondern stattdessen den größtmöglichen Wust heretogenen Mülls, den es je auf einem Haufen gegeben hat. In eine heruntergekommene, maximal verwarzte und baufällige Fabrikhalle sind über die vergangenen Jahrzehnte wohl an die fünfzig Verkaufsstände organisch hineingewachsen. Jeder dieser Stände wiederum sieht aus, als hätte man den kompletten Inhalt einer Messie-Wohnung ausgeräumt und originalgetreu in der Markthalle wieder aufgebaut.

Hier finden sich in friedlicher Eintracht abgegriffene Fernbedienungen, völlig und restlos ausgelatschte Schuhe, Stühle mit zwei Beinen, verbeulte Durchlauferhitzer, Fernseher mit halbblinden Bildröhren, Lautsprecherboxen unbekannter Herkunft mit eingedrückten Kalotten, vollgekotzte Gastronomieherde mit beängstigenden Ausmaßen, ukrainische Atomkraftwerkersatzteile, verrostete Spülen, absolut defekte und nie wieder reparierbare Waschmaschinen, ausgelaufene Batterien, Fahrräder ohne Räder, Autoreifen ohne Schlauch, Schrauben ohne Gewinde, Lampen ohne Fassung, getragene einzelne Socken – Pizzakartons aus zweiter und Umzugskartons aus siebter Hand – kurz: nahezu nichts ist zu gebrauchen. Keines der hier feilgebotenen Dinge würde man in der Zweiten Hand unter der Rubrik „Zu verschenken“ loswerden können.

Jeder der Stände ist wiederum bereits dermaßen mit Nippes, Müll und Kokolores vollgebaut, dass nur ein Bruchteil der sichtbaren Waren überhaupt näher betrachtet, geschweige denn angefasst oder gar ausprobiert werden kann. Würde man beispielsweise einen aus der Masse hervorstechenden Spiegel wirklich von Hand aus dem Warenklumpatsch befreien, könnte dieser Vorgang möglicherweise den Zusammenbruch des Verkaufsstandes, wenn nicht gleich der ganzen Markthalle zur Folge haben.
Man sieht auch nirgendwo jemanden etwas kaufen. Als ich beispielsweise über ein rostiges Kinderfahrrad mit abgebrochenen Stützrädern stolperte, fragte ich mehr der Neugierde halber den Verkäufer, der den Stand betreute, nach dem Preis. 70 Euro antwortete er, und schob ein fürstlich gelauntes „fast neu“ hinterher. Es sind dies Preise, die man im fortgeschrittenen Geschäftsverkehr gern Vermeidungspreise nennt.

Zu sprechen ist unbedingt von dem Geruch. Der gesamte Flohmarkt riecht nach einer Mischung aus Schweiß, Tod, Verwesung, alten Socken und Schuhen. Als basso continuo liegt über all diesem noch der Geruch von tranigem Fritierfett und zwiebeligem Bulletenatem, denn in der Halle – und nicht davor – befindet sich auch ein Imbiss-Stand, an dem schnaufende, rotgesichtige Herrschaften, in Ballonseide gekleidet, Kuchen, Pommes Frites und Curry-Würste verzehren, während sie gleichzeitig Bier und schwarzen Kaffee trinken und auch noch filterlose Zigaretten rauchen. Hier werden, ich habe es gesehen, nicht nur die Pommes Frites, sondern auch die Würste in der Friteuse zubereitet, es nähme mich nicht wunder, wenn auch der Kuchen fritiert würde. Aus allen Ecken hört man Hustenanfälle, Brechreiz und tuberkulöses Atmen, Geräusche die sich vortrefflich mit den Klingeltönen verwichener Handy-Generationen mischen. Mehrere Stände sah ich, in denen die Standbesitzer über Minuten regungslos sitzend verharrten, nicht auszuschließen, dass sie schon seit Tagen oder Wochen tot waren. Im geometrischen Mittelpunkt eines Lederwarenstandes wiederum saß, völlig von Lederjacken, Hosen, Schuhen und Handtaschen zugebaut, ein Rastafari-Mann, der über dem Startbildschirm eines hochfahrenden Windows 3.11 sinnierte und dabei stillvergnügt in sich hineinschmunzelte. Mehrmals passierte ich den Stand, mir bot sich das immergleiche Bild, vermutlich war das Windows-Logo längst in den Monitor hineingebrannt. Es herrschte kein Zweifel, hier hatte ein Mensch seinen Frieden, ja seine Bestimmung gefunden.
Der Antik- und Trödelmarkt in der Puschkinallee ist mit Sicherheit ein Ort, den man besucht haben muss. Nirgendwo sonst manifestieren sich Hoffnungslosigkeit und Defektizität konzentrierter und überzeugender. Wer diesen Ort des Grauens verlässt, er hat die Pest, Cholera und auch sonst den einen oder anderen Bazill am Revers kleben, und wer nach einem Besuch dieses Marktes durch den eisigen Berliner Wind nach Hause stapft, der ist für immer auf wundersame Weise verändert.