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Chinas Problem mit der Mobilität

 

Angenommen, ein Arbeitnehmer zieht aus beruflichen Gründen von Kittendorf in Mecklenburg-Vorpommern nach München – und meldet sich jahrelang nicht beim Ordnungsamt um. In Deutschland wäre das schlicht illegal. In China ist das hundertmillionenfach die tolerierte Normalität. Denn im Reich der Mitte ist es nicht so einfach möglich, sich umzumelden.

Diese Regel belastet das Leben der Betroffenen sehr. Denn die Chinesen sind hochgradig mobil: 300 Millionen von ihnen gelten als Wanderarbeiter – sie leben und arbeiten nicht da, wo sie gemeldet sind. Doch schon bald könnte sich an dieser Schieflage etwas ändern.

Am Wochenende findet in Peking mit dem Dritten Plenum des 18. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ein Gipfel statt, der umfassende Reformen der Melderegeln einleiten soll. Das klingt nach einer Verwaltungsfrage, ist in der Volksrepublik aber ein wirtschaftspolitisch hochbrisantes Problem. Denn China will den Zuzug in die Städte grundsätzlich fördern, um das Wachstum anzukurbeln. Die Regierung will die zu befürchtende Völkerwanderung zugleich aber einschränken und im Griff behalten. Es sollen keine Slums entstehen.

In Deutschland mit seinen vielen kleinen Städten und seiner ausgeglichenen Bevölkerungsverteilung ist der Unterschied zwischen Land- und Stadtbewohnern heute nicht mehr klar erkennbar. In China dagegen gehören beide Gruppen zu zwei völlig unterschiedlichen Welten. Landbewohner sind Bauern mit erschreckend geringer Produktivität, minimalen Einkommen und niedrigem Bildungsstand. Stadtbewohner leisten pro Kopf ein Vielfaches für die Wirtschaft, zahlen in die öffentlichen Kassen ein und schaffen Werte, auf denen man aufbauen kann. Ihr Lebensstil unterscheidet sich oft nicht mehr von jenem in Metropolen entwickelter Länder.

Wenn Wachstumspotenzial ein Rohstoff wie Öl wäre, dann hätte sich China in den vergangenen drei Jahrzehnten als eine Art Saudi-Arabien der Konjunktur erwiesen. In der Urbanisierung weiterer 400 Millionen Bauern würden nun noch einmal Ölfelder in vergleichbarer Größe auf ihre Erschließung warten.

Das Dritte Plenum des 18. Zentralkomitees, das am Samstag in Peking beginnt, will diese Produktivitätsreserven anbohren. Vorbild ist demnach Lateinamerika, wo die Verstädterung mit 80 Prozent sogar noch deutlich höher liegt als in Europa. Übrig bleiben sollen vielleicht zehn Prozent Bauern, die das Land mit Lebensmitteln versorgen sollen. Maschinenkraft soll ihnen helfen; die Wasserbüffel, die heute übers Feld ziehen, sollen Geschichte sein.

Also alles klar? Soll China doch einfach das alte Einwohnermeldewesen verschrotten und jeden dahin ziehen lassen, wo er wohnen will. Wie in Europa.

Doch das würde kaum funktionieren. Natürlich weiß die halbe Milliarde Chinesen, die auf den schmutzigen und hässlichen Bauerndörfern des Landes ihr Leben fristet, ganz genau, dass es in den Städten lebenswerter ist. Die Straßen sind dort sauber, es gibt tolle Bürojobs, gute Schulen für die Kinder und geheizte Apartments mit Flachbild-TV.

Doch wenn Peking die Schleusen einfach öffnen würde, dann kämen jedes Jahr Millionen Bauerntöchter und -söhne an die Grenzen von Shanghai, Peking und Guangzhou, um ihr Glück zu suchen. Diese Metropolen platzen schon jetzt aus allen Nähten. Sie wären dann völlig überlastet. Für all diese Migranten gäbe es nicht die Jobs, auf die sie hoffen, nicht genug Schulplätze, nicht genug fließendes Wasser, nicht genug Kläranlagen. Sie würden in Wellblechsiedlungen hausen müssen. Chinas Städte hätten dann Slums.

Genau das ist derzeit das größte Problem der 300 Millionen Wanderarbeiter – ob Malocher auf der Baustelle oder Investmentbanker, die sich inzwischen doch in den Städten aufhalten: Kommunale Dienste wie Gesundheitsversorgung stehen nur im Heimatort zur Verfügung, nicht am Wohnort. Die Kinder können nicht zur Schule gehen. Die Polizei kann einen jederzeit vertreiben – schließlich wohnt man immer halb illegal. Zugleich hält es sie aber davon ab, mit ihren Familien komplett in die Städte zu siedeln.

Die Reform des Einwohnermeldewesens ist also ebenso überfällig wie schwierig. Was das Plenum (es läuft bis Dienstag) beschließen wird, ist bislang noch nicht bekannt. Doch es läuft vermutlich auf folgende clevere Lösung hinaus: Peking und Shanghai bleiben den Bauernsöhnen weiter verwehrt – nicht aber mittelgroße Landstädte. Es gibt in China 160 Städte, die größer sind als Köln. Davon sind nur zehn berühmte Metropolen mit mehr als zehn Millionen Einwohner. Es bleiben also 150 Großstädte der mittleren Kategorie. Sie sollen der Kern der neuen Urbanisierung werden.

Um bei dem deutschen Beispiel zu bleiben: Die Landbewohner können auch künftig nicht einfach von Kittendorf nach München ziehen. Sie können aber Bürger von Neubrandenburg werden. (In China hätte ein Neubrandenburg halt sechs Millionen Einwohner, nicht 60.000.) Dafür soll die Wirtschaft dort kräftig wachsen. Ein lohnendes Projekt.