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Lernen vom Nachbarn

 

Dieses Video von der Dutch Cycling Embassy zeigt die Verkehrsentwicklung in den Niederlanden von den 50er Jahren bis heute

In den Niederlanden gibt es mehr Fahrräder als Einwohner. Die Menschen dort fahren öfter, weiter und bedeutend entspannter Rad als die Deutschen. Um die Gründe ging es bei einem Erfahrungsaustausch in dieser Woche in Berlin. Der niederländische Botschafter hatte deutsche und niederländische Experten zu einem Symposium eingeladen.

Die Beiträge der niederländischen Redner zeigten recht schnell: Radfahren ist Bestandteil ihrer Kultur. Polizisten auf Velos gehören dort so selbstverständlich zum Stadtbild wie das Kreuz in Bayerns Klassenzimmern. Radfahren wird den Niederländern quasi in die Wiege gelegt. Lange vor Schulbeginn bringen Eltern es ihren Kindern bei.

Wie die Referenten berichteten, radeln in den Niederlanden die meisten Kinder zur Schule. Das geht in den Städten von Zwolle bis Amsterdam anscheinend problemlos, weil die Wege rund um Schulen sehr sicher sind. Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto bringen, haben vor dem Eingang keine Haltemöglichkeiten. Parken können sie nur im Umkreis von etwa 300 Metern. Wer mit dem Rad kommt, fährt auf Wegen, die klar von der Autospur getrennt sind.

Für Straßen mit Tempo 50 ist das erklärte Ziel der Niederländer, Rad- und Autospur strikt voneinander zu trennen. In Amsterdam ist das Konzept bereits an 500 Radstraßen im Stadtgebiet umgesetzt worden. Regelmäßige Kontrollen sorgen laut Dirk Iede Terpstra von der dortigen kommunalen Verwaltung dafür, dass auf Radspuren keine Autos parken. Ein Schlaraffenland für Radfahrer?

Noch nicht. Wobei deutsche Radlobbyisten die Schwierigkeiten unserer Nachbarn wahrscheinlich als Luxusprobleme empfinden und gerne mit ihnen tauschen würden.

Ein Problem der Niederländer ist das Abstellen der Velos. Die 16 bis 17 Millionen Einwohner besitzen laut Joop Atsma, einem ehemaligen Staatsekretär aus dem Verkehrsministerium, 19 bis 20 Millionen Räder. Die Stellplätze in Fahrradparkhäusern reichen oft nicht aus. Es besteht Handlungsbedarf. Ebenso bei Diebstählen. 800.000 Räder verschwinden jedes Jahr. Neue Räder werden nun mit Chips verkauft, um sie lokalisieren zu können.

Parkmöglichkeiten für Fahrräder am Bahnhof in Groningen

Außerdem stieg die Zahl der Unfallopfer und -toten in den vergangenen drei Jahren. Die Niederländer investieren deshalb in Forschung und in Infrastruktur. Rund 30 Euro pro Einwohner geben sie jedes Jahr für ihre velophile Verkehrsstruktur aus.

Da kann Deutschland kaum mithalten. Dort bestimmen die Städte und die Kommunen, wie viel sie investieren wollen. In Berlin waren es im vergangenen Jahr 5 Euro. „Berlin ist arm“, erklärte Burkhard Horn von der Berliner Senatsverwaltung die knappen Ausgaben – mehr Mittel sind nicht drin. Die Niederländer kalkulieren bei ihrer Rechnung allerdings auch den gesundheitlichen Nutzen ein. „Untersuchungen zeigen: Radelnde Mitarbeiter sind seltener krank“, sagte Atsma. Außerdem beuge Radfahren Übergewicht vor, einem neuen Problem in vielen westlichen Gesellschaften.

Wenn die Regierung Radfahren in der Gesellschaft verankern will, sei eine aktive Rolle gefragt, meinte Ex-Staatssekretär Atsma. „Ihr Verkehrsminister redet von Kampfradlern, von Fahrradfahrern als Plage“, sagte er und fügte ironisch hinzu: „Für mich ist das eine ganz neue Sicht.“ Atsma ist passionierter Rennradfahrer und war Mitglied einer Kommission des Radsportweltverbandes UCI.

Damit ist er keine Ausnahme in den Niederlanden. Dort ist das Velo das Verkehrsmittel der Wahl. Es ist sicher, schnell, gesund und klimafreundlich – das signalisierte jeder Redner aus dem Land. Und diese Erkenntnis hat sich durchgesetzt,  in allen sozialen Schichten. Das ist der entscheidende Unterschied zu Deutschland. Die Redner zeigten immer wieder Fotos von Mitgliedern der Königsfamilie, die ihren Nachwuchs selbstverständlich mit dem Transportrad oder im Kindersitz durch die Gegend kutschieren. Radfahren ist positiv besetzt in diesem Land, es ist ein Aushängeschild, mit dem man sich gerne schmückt.

In Ansätzen gibt es das auch in Deutschland, ab und an zeigt sich ein Bürgermeister auf dem Rad. Aber das sind Ausnahmen. Wenn Deutschland wirklich fahrradfreundlicher werden will, kann es noch viel von seinem Nachbarn lernen.

Update: Im vergangenem Jahr hat der Berliner Senat nur 1,6 Euro pro Einwohner für den Radverkehr ausgegeben. Eigentlich soll  das Budget bis 2015 auf 5 Euro pro Einwohner aufgestockt werden, aber das ist noch umstritten.