Das Verkehrsrecht ist nicht immer eindeutig. Das hat kürzlich hier im Blog die lebhafte Debatte zur ACE-Studie gezeigt, die falsche Infos zur Zebrastreifen-Nutzung enthielt. Deshalb stellen wir in den kommenden Wochen mithilfe des Rechtsanwalts Christoph Krusch die größten Irrtümer und Legenden zum Thema Radfahren im Blog vor. Krusch arbeitet in Berlin und hat sich aufs Radrecht spezialisiert.
Teil 4: Musik hören beim Radfahren ist erlaubt
§ 23 Abs. 1 Satz 1 StVO: Wer ein Fahrzeug führt, ist dafür verantwortlich, dass seine Sicht und das Gehör nicht durch die Besetzung, Tiere, die Ladung, Geräte oder den Zustand des Fahrzeugs beeinträchtigt werden.
Kürzlich wollte meine siebenjährige Tochter auf dem Gehweg mit ihrem Rad einen jungen Mann überholen. Er war zu Fuß unterwegs und reagierte weder auf Klingeln noch auf Zurufe. Er hatte Kopfhörerstöpsel in den Ohren, und die Musik war so laut, dass er uns nicht hören konnte.
Als Radfahrer hätte er bei einer Verkehrskontrolle Schwierigkeiten bekommen können. Zwar ist – entgegen der landläufigen Meinung – Musikhören auf dem Fahrrad erlaubt. „Aber die Voraussetzung ist, dass man weiterhin den Straßenverkehr wahrnimmt sowie Warnsignale wie Klingeln und Hupen hört“, erklärt Rechtsanwalt Krusch. Eine klare Vorgabe ist hier schwierig. Letztlich liegt die Entscheidung über die Lautstärke der Musik beim Radfahrer.
Einen gravierenden Unterschied macht die Art des Kopfhörers, wie ein Test der australischen Fahrradzeitschrift rideOn gezeigt hat. In-Ear-Kopfhörer, die in den Gehörgang eingeführt werden, lassen bedeutend weniger Außengeräusche durch als Ear-bud-Kopfhörer, die mit einem Bügel in die Ohrmuschel gehängt werden.
Doch nehmen Radfahrer mit Kopfhörer weniger Außengeräusche wahr als Autofahrer bei geschlossenem und offenem Fenster, mit und ohne Musik? Auch dieser Frage gingen die Tester von rideOn nach. Das Ergebnis ist aufschlussreich. Nach ihrer Messung hört ein Radfahrer mit Ohrmuschel-Kopfhörer bei angemessener Lautstärke viel mehr Umgebungsgeräusche als ein Autofahrer, der keine Musik hört. Radfahrer mit In-Ear-Kopfhörern hören bei angemessener Lautstärke etwa genauso viel wie ein Autofahrer ohne eingeschaltetes Radio.
Für den Versuch haben die Tester ein synthetisches Ohr mit Dezibelmesser verwendet. Mehr dazu hier oder hier im Blog der Radspannerei auf Deutsch.
Gehör als zweite Absicherung
Autofahren und Musikhören bildet in unserer Gesellschaft schon fast eine Einheit. Was viele dabei vergessen: Den oben zitierten Paragrafen müssen auch Autofahrer beachten. „Autos dürfen auch nicht als rollende Soundanlage durch die Gegend fahren“, sagt Krusch.
Autofahrer hören durch die Fahrgeräusche und die Schallisolierung in der Regel weniger als ein Radfahrer mit Kopfhörern. „Dröhnt dann noch die Stereoanlage, kann dieses Verhalten fahrlässig sein und bei einem Unfall zu einer Mithaftung führen“, erklärt der Anwalt. Letztlich dürfe niemand im Straßenverkehr seine akustische Wahrnehmung übermäßig beeinträchtigen.
Immer wieder hört Krusch von Radfahrern das Argument, Gehörlose oder Motorradfahrer mit Integralhelm hörten bedeutend weniger als sie mit lauter Musik auf den Ohren. Selbst wenn das zutreffe, so Krusch, sei dies dennoch kein Freibrief, das Gehör nur zum Vergnügen künstlich durch zu lautes Musikhören einzuschränken. Außerdem müssen Radfahrer jederzeit den Verkehr überblicken, das Gehör dient als zweite Absicherung.
Auch wenn Musikhören beim Radeln also grundsätzlich erlaubt ist, sollte man sich genau überlegen, wann und wo man sich Kopfhörer aufsetzt. Das Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG) hat im vergangenen Jahr untersucht, wie Musikhören die Reaktionszeit verändert. Selbst bei Musik in der Lautstärke eines normalen Gesprächs nehmen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung um 20 Prozent ab, und somit in gleichem Maße die Reaktionszeit. Ist die Musik so laut wie ein Fernseher, verdoppelt sich der Studie zufolge die Reaktionszeit des Verkehrsteilnehmers.
Im Stadtverkehr kann das fatale Folgen haben. Deshalb sollte sich jeder genau überlegen, wo er Musik auf dem Rad hört. Im Park ist es sicherlich angebrachter als zur Hauptverkehrszeit in der Großstadt.
Teil 1 der Serie: Radfahrer dürfen Autoschlangen rechts überholen
Teil 2: Radfahrer zu Gast auf dem Gehweg