„Schaltet das Licht aus, wenn ihr geht“, hatte Jan Mohr gesagt. Da standen wir nun im ehemaligen Melkraum des Bauernhofs und suchten den Lichtschalter zwischen den Fahrrädern. Wo sich einst Kühe beim Melken ans Gitter drängten, lehnen heute ausrangierte Markenräder von Hercules und anderen Herstellern. Im Nebenraum, wo der Landwirt im Ruhestand jahrzehntelang Kälbchen aufzog, hat er Sesselräder und skurrile Damenräder aufgereiht.
Mehr als drei Stunden bin ich mit zwei Begleitern durch diese und weitere Räume gestreift – alle bestückt mit Rädern aus dem vergangenen Jahrhundert. Richtig anschauen konnte ich gerade mal einen Bruchteil der Schätze, die im Fahrradmuseum Räder unter Reet nördlich von Elmshorn lagern. Die Sammlung ist eine der interessantesten, die ich bislang gesehen habe.
Die Zusammenstellung der Räder macht den Charme der privaten Ausstellung aus. Jan Mohr setzt themenbezogene Schwerpunkte, die teilweise außergewöhnlich sind und schon mal schrill daher kommen. Etwa seine Ecke mit Falträdern ausschließlich aus den Niederlanden, seine Sammlung von Sesselrädern mit gepolsterter Rückenlehne oder seine „Damenecke“, wie er sie nennt.
Dort hängt ein Werbeplakat von einem Heidemann-Damenrad. Fahrerin und Rad sind farblich aufeinander abgestimmt – beide rot. Der Rahmen ist rot, die Speichen, die Seiten des Mantels, die Luftpumpe und selbst die Satteltaschen aus Plastik. Die Fahrerin trägt ein Minikleid im selben Farbton, ebensolche Schuhe und das farbliche Pendant am Kopf als Stirnband. Schön ist anders. Aber vor ein paar Jahrzehnten war das modern, und Mohr fängt den Moment gut ein.
Ganz anders präsentiert das Museum den historischen Fahrradladen. Wer durch die dunkelgrüne Holztür tritt, fühlt sich 80 Jahre zurückversetzt. Der Verkaufstresen ist wie die Schaukästen aus Glas und dunklem Holz. An der Wand hängt ein Plakat aus schwerem Papier mit drei bunten Zeichnungen zur Entwicklung des Fahrrads. Direkt darunter steht ein Laufrad mit dicken Sprungfedern statt Mantel. Das sogenannte Notrad stammt aus der Nachkriegszeit.
Dieser Kontrast zwischen Ernsthaftigkeit und den Auswüchsen der Fahrradkultur tut der Ausstellung gut. Außerdem spiegelt er den Humor und das Faible für gute Geschichten von Jan Mohr und André Konietzko wider. Die beiden betreuen zusammen mit den Mitgliedern der Fahrradgruppe Rückenwind das Museum.
Wer Mohr und Konietzko zuhört, erfährt viel über die regionale Fahrradkultur und alte Traditionen. So sah man eine Zeitlang in Elmshorn häufig Räder der Marke Stricker. Der Grund war simpel: Die Werft Kremer in Elmshorn hatte für ihre Mitarbeiter beim Fahrradhersteller Stricker in Bielefeld Fahrräder bestellt. Als sie dann in einem Waggon am Güterbahnhof ankamen, holten sich die Werftarbeiter ihre Räder und fuhren damit durchs Dorf. Ein heimischer Fahrradhändler, der sie sah, soll daraufhin wutentbrannt aus seinem Laden gestürmt sein und die Radfahrer beschimpft haben – schließlich hatten sie die Räder nicht bei ihm gekauft.
Auch die Reigen- und Kunsträder in dem Museumsladen spielten früher in Schleswig-Holstein eine besondere Rolle. Mit derartigen Rädern seien einst junge Frauen und Männer aus der Gegend bei Dorfbällen aufgetreten, sagt André Konietzko. Sie hätten damit Kunststücke und Reigentänze auf den großen Bühnen der Gasthäuser aufgeführt.
Konietzko fährt seit seiner Jugend Rennrad. Damals gab es in Elmshorn einen Stadtjugendpfleger, der mit jungen Leuten aus der Gegend im Sommer Südeuropa auf dem Rad erkundete. Sehr spartanisch, wie sich Konietzko erinnert. Die Rennräder wurden mit dem notwendigen Gepäck bestückt, und dann fuhr die Gruppe mit Zelt und Isomatte durch den Süden.
In dieser Zeit wurde André Konietzko zum Radfahrer. Später gründete er mit sechs Mitfahrern aus dieser Gruppe in Elmshorn den Radsportverein Rückenwind und zwanzig Jahre später die Klassik-Sparte im Verein. Historische Räder sammelt er seit 1999. Viele der Ausstellungsstücke in dem Fahrradladen gehören ihm. Manche hat er ersteigert, manche auf dem Schrott gefunden, wieder andere wurden ihm geschenkt oder er hat sie in Pflege genommen.
„Wir bewahren die Räder nur auf“, sagt Jan Mohr. Er versteht seinen Bauernhof als Gnadenhof für Fahrräder. „Wenn jemand ein Rad aus Familienbesitz wieder haben möchte, bekommt er es natürlich zurück“, sagt er. Einmal stand tatsächlich ein 15-Jähriger auf dem Hof und fragte nach dem alten Rad seiner Familie – er hatte es auf einem Foto im Familienalbum entdeckt. Mohr gab es dem Jungen, und der fuhr damit strahlend vom Hof. Mohr gefiel das, aber es war ein Einzelfall.
Das Museum Räder unter Reet lässt sich am Tag der offenen Tür besuchen, man kann aber auch einen individuellen Besuchstermin mit Jan Mohr oder André Konietzko vereinbaren. Das Museum liegt nördlich von Elmshorn in Horst-Hahnenkamp. Weitere Infos gibt es unter fahrradgruppe-rueckenwind.de.