Als sie den Beamten an der Grenze ihren Pass hinhielt, wurde sie unsicher. „Jetzt gehst du einen Schritt zu weit“, dachte sie. Durch den Iran radeln, als Frau und alleine – das schien ihr auf einmal zu riskant. Vier Wochen zuvor hatte sie die Türkei verlassen. Dort war sie von kleinen Jungen mit Steinen beworfen worden, auf der Landstraße hatten Männer sie auf dem Fahrrad beim Fahren auf den Hintern geschlagen, sie wurde verfolgt, umzingelt und einmal sogar mit dem Messer bedroht. Nun stand sie an der Grenze zum Iran. Sie war skeptisch und hatte ein schlechtes Gefühl – doch dann kam alles ganz anders.
Heike Pirngruber ist eigentlich kein ängstlicher Typ. Sie kennt sich in der Welt gut aus. 2013 hat sie sich im Frühjahr in Heidelberg auf den Weg gemacht nach Australien – mit dem Fahrrad. Von Australien hat sie geträumt, seit sie sechs Jahre alt war. Mit 19 Jahren ist sie das erste Mal dort gewesen und seitdem immer wieder, außerdem in über 80 weiteren Ländern – mal allein, mal mit Freunden, mal mit Menschen, die sie auf ihren Reisen traf. Die 42-Jährige ist Weltenbummlerin, Radfahrerin und Fotografin. Vielleicht ist sie rastlos, vor allem aber ist sie neugierig auf die Länder dieser Welt, mit ihren unterschiedlichen Menschen und Kulturen.
Nun stand sie an der Grenze zum Iran und sah auf den Stacheldrahtzaun, der Armenien vom Iran trennt. „Du wirst eine tolle Zeit haben“, sagten die Grenzbeamten freundlich. Pirngruber zögerte. Obwohl ihr viele andere Radreisende berichtet hatten, wie einfach es sei, im Iran zu reisen und ihr von der Gastfreundschaft der Menschen vorgeschwärmt hatten, war sie unsicher. Dennoch reiste sie ein. Zur Vorsicht blieb sie allerdings auf der Hauptstraße – dabei bevorzugt sie auf ihren Radreisen kleine abgelegene Straßen und Pfade.
Inmitten karger brauner Felswände und engen Schluchten radelte sie Richtung Jolfa, einer kleinen Stadt im Norden Irans. Es war kalt. Die Berge waren bereits mit Schnee bedeckt. Nach einer Weile fuhr ein Auto neben ihr, der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und rief ihr zu „Welcome to Iran“. Später, als sie auf der Straße von drei kläffenden Hunden umlagert wurde, schloss ein Auto zu ihr auf und der Fahrer vertrieb die Hunde. Das war ihr noch nie auf ihren Reisen passiert.
In Jolfa traf sie zwei Radfahrer, die sie sofort zu Freunden einluden. Dort legte sie ihre drei Mützen ab, die sie gegen die Kälte statt eines Schleiers trug und die dicke Winterjacke, die sie sich beim Radfahren um die Hüften gebunden hatte, um ihren Körper zu bedecken. An diesem Abend brauchte sie kein Kopftuch. In den folgenden Wochen passte sich Pirngruber immer den Gepflogenheiten ihrer Gastgeber an und hatte auf Grund ihrer Kleidung nie Schwierigkeiten im Iran. An diesem Abend bekochten ihre neuen Bekannten die Radfahrerin und luden sie ein, bei ihnen zu übernachten.
Pirngruber tauchte immer mehr in die iranische Kultur ein. Sie übernachtete bei Iranern, die sie über das weltweite Gastfreundschafts-Netzwerk „Warmshowers“ für Tourenradler kannte oder über andere Radfahrer-Netzwerke, von ihnen wurde sie an Freunde weiter gereicht oder wurde von Fremden eingeladen. Wenn sie keine Unterkunft hatte, fragte sie beim Iranischen Roten Halbmond nach, die immer ein Zimmer und ein Bett für Radfahrer haben oder in der Moschee. Auch dort werden Fremde laut Pirngruber stets freundlich aufgenommen.
Pirngruber spricht kein persisch. Aber sie hat immer einen Zettel in der Landessprache bei sich, der erklärt, wer sie ist, woher sie kommt, dass sie mit dem Rad nach Australien fährt und dass sie beispielsweise eine Unterkunft für die Nacht braucht. Im Iran brauchte sie den Zettel selten.
Dort konnten manche Männer und Frauen nicht glauben, dass sie eine Frau ist. Manchmal wandten Frauen sich von ihr ab, weil sie dachten, sie sei ein Mann. Mit anderen saß sie stundenlang in der Moschee, trank Tee und schwatzte mit ihnen.
„Die Reaktion auf das was ich mache, hing im Iran oft vom Bildungsgrad ab“, sagt Pirngruber. Viele Iraner seien sehr gebildet, auch viele Frauen hätten studiert. Manche konnten auch deshalb Pirngrubers Beweggründe für die Reise verstehen, andere wiederum überhaupt nicht. Das wundert die Radfahrerin nicht. Derlei Reaktionen begegnen ihr überall auf der Welt.
Trotzdem war sie im Iran die Ausnahme, sie war eine Attraktion, ein bunter Vogel. Sie stand immer im Mittelpunkt. Das ist durchaus anstrengend. Jeden Tag beantwortete sie dieselben Fragen und wurde ständig mit und von Fremden fotografiert. Wenn sie Einladungen annahm, bedeutete das oft: Sie redete den ganzen Abend, hörte sich die Familiengeschichten an und blätterte in den Fotoalben der Familie. Geschlafen wurde meist in einem Raum mit vielen Menschen und oftmals erst sehr spät in der Nacht. Das ist interessant, auf Dauer aber anstrengend.
Ist man zu zweit unterwegs, wird man nicht so schnell angesprochen. Aber genau der enge Kontakt zu den Menschen, die vielen Einladungen und die vielen Gespräche gefallen ihr am Alleinreisen.
Zudem gehen Menschen wie Pirngruber nicht gerne Kompromisse ein. „Reiseradler, die extreme Touren unternehmen sind meistens knallharte Individualisten“, sagt sie. Bevor sie selbst täglich Zugeständnisse macht, wie weit, wie schnell und wohin sie fährt, fährt sie lieber allein. Sie genießt die Einsamkeit. Auf dem Rad sortieren sich ihre Gedanken und die vielen Eindrücke. „Es ist ein geniales Gefühl wenn man in der Natur sitzt und die Welt für sich ganz alleine erleben kann“, sagt sie.
Aber wie im Alltag mit einem geregelten Job und klaren Aufgaben läuft auch auf so einer Reise nicht immer alles rund. Manchmal sitzt Pirngruber am Straßenrand, schaut auf ihre Weltkarte und sagt zu sich: „Du hast ne Macke, das ist alles noch so irre weit. Warum machst Du das?“ Bislang ist sie immer wieder aufgestanden, hat sich auf ihr Rad gesetzt und ist weitergefahren.
Heike Pirngruber dokumentiert hier in ihrem Blog „pushbikegirl“ regelmäßig mit interessanten Beiträgen und eindrucksvollen Fotos ihre Reise – ein Besuch lohnt sich. Zurzeit ist sie in Vietnam.