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Wildwuchs auf Hamburgs Straßen

 

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Den schmalen Weg unter der Brücke teilen sich Fußgänger mit Radfahrern, die dort in beiden Richtungen fahren dürfen.  © Reidl

Hamburg will den Anteil des Radverkehrs von 12 auf 25 Prozent mehr als verdoppeln. Dafür muss das Radwegenetz aber deutlich ausgebaut und verbessert werden. Warum das dringend nötig ist, zeigte sich bei einer Führung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) durch die Hansestadt.

Morgens um neun sind in Hamburgs Zentrum die Radwege leer, und auf den Straßen ist wenig los. Der Berufsverkehr ist vorüber, und die Geschäfte in den Einkaufsstraßen sind noch geschlossen. Wir sind schon eine Weile unterwegs, als Merja Spott, Verkehrsreferentin des ADFC Hamburg, den zwölf Studenten, die sie begleiten, an einer Kreuzung in Eimsbüttel eine Aufgabe stellt: Sie sollen von der Bogenstraße in die Rutschbahn fahren, eine etwa 100 Meter entfernte Straße. Sie führt zum Grindel, einem beliebten Viertel mit Kino, Kneipen und Restaurants.

Eigentlich sollte das keine große Sache sein. Die beiden Straßen sind fast durch eine Gerade miteinander verbunden – und durch zwei Kreuzungen. An der zweiten darf man nur rechts abbiegen; der Weg in die Rutschbahn führt aber nach links. Wo muss man also lang, um dorthin zu kommen?

Bogenstraße: Start ist der Standpunkt des Radfahrers. Das Ziel liegt etwa hundert Meter hinter der Fotografin © Reidl
Bogenstraße: Start ist der Standpunkt des Radfahrers in der blauen Jacke. Das Ziel liegt etwa hundert Meter hinter der Fotografin. © Reidl

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Einige Studenten biegen ab, andere versuchen es geradeaus auf dem Fußweg oder auf der Straße. © Reidl

Spotts Studenten kennen sich in dem Stadtteil nicht aus, das merkt man. Die einen schummeln und wählen die kürzeste Verbindung: Das ist die Gerade über den Fußweg – Radfahren ist dort natürlich verboten. Andere fahren erst die direkte Verbindung auf der Straße, um an der Rechtsabbieger-Kreuzung ihr Rad auf den Fußweg zu heben. Dann fahren sie wie ihre Kommilitonen über die Fußgängerampel. Andere wiederum ordnen sich in der Bogenstraße auf der Linksabbiegerspur für Radfahrer ein, biegen ab und fahren an der nächsten Kreuzung rechts, um in einem großen Halbkreis umständlich bis zur Kreuzung an der Rutschbahn zu fahren.

Tatsächlich haben Hamburgs Verkehrsplaner eine ganz andere Route vorgesehen, die von Spotts Studenten nur einer gewählt hat – die anderen lagen falsch. Die richtige Lösung geht so: In der Bogenstraße müssen sie sich auf die Linksabbiegerspur einordnen. Dann lassen sie den entgegenkommenden Autoverkehr passieren und biegen nicht ab, sondern fahren geradeaus auf die Verkehrsinsel in der Mitte der Kreuzung. Dort existiert ein Zweispur-Radweg. Den dürfen sie befahren, um dann weiter geradeaus über die Radfahrer- und Fußgängerampel in die Fahrradstraße Rutschbahn zu gelangen. Das hört sich kompliziert an, und es ist auch kompliziert.

Hier muss man sich auskennen © Reidl
Wer sich auskennt, ist im Vorteil. Statt scharf links abzubiegen, muss der Radfahrer geradeaus auf den Zweirichtungsradweg (unten im Bild) weiterfahren. © Reidl

Selbsterklärend ist diese Verkehrsführung jedenfalls nicht. Auch Google Maps führt die Radfahrer in einem großen Bogen über eine ganz andere Route zur Rutschbahn.

Die Kreuzung in Eimsbüttel ist ein schönes Lehrstück dafür, wie die Hamburger Senatsverwaltung ihren Radfahrern seit Jahren ein problematisches Verhalten antrainiert. Für die Hälfte der Studenten war es selbstverständlich, auf den Fußweg auszuweichen. Dahinter steckt System: Für Radfahrer – von den Verkehrsplanern auf handtuchbreiten Radwegen durch die Hansestadt geschickt – ist es normal, dass sie selbst viele zu enge Radwege in zwei Richtungen befahren müssen und dass ihre Wege so geleitet werden, dass Fußgänger ständig ihre Wege kreuzen. Darum ist es für sie auch normal, dass sie drei bis vier Mal abbiegen und drei bis vier Ampeln passieren müssen, um geradeaus in eine Straße einzubiegen – und das im Zentrum der Stadt.

Verkehrsplaner, die so nachlässig die Wege für Radfahrer und Fußgänger anlegen, müssen sich über Wildwuchs nicht wundern. Radfahrer übertragen das erlernte Verhalten auf andere Strecken oder suchen sich neue Wege, wenn sie die für sie vorgesehene Route nicht verstehen oder zu gefährlich finden.

Die Straße selbst war für die Studenten häufig keine Option. Dort waren Merja Spott und ich an diesem Vormittag immer wieder alleine unterwegs. Die zwölf jungen Studenten fuhren parallel zu uns auf nicht benutzungspflichtigen Radwegen, auf denen sie langsamer vorankamen. Die Wege waren schlecht in Schuss, aber sie fühlten sich dort anscheinend sicherer und radelten entspannter als auf der Straße. Ich konnte sie sogar verstehen. Ich bin als Radfahrer schon lange nicht mehr so oft angehupt worden wie an diesem Morgen.

Ein paar Stunden später radelte ich vom Berliner Hauptbahnhof nach Kreuzberg. Der Unterschied war frappierend. Dort fuhr ich mit vielen Radfahrern entspannt auf der Straße, und die Autos hielten Abstand. Berlin ist sicherlich keine Vorzeigestadt für die Radverkehrsplanung, aber gegenüber Berlin herrscht in Hamburg für Radfahrer noch Mittelalter.