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Profiradsport: Rundfahrt ohne Glamour

 

Radrennfahrer sind Arbeitstiere
Charles Wegelius (links) mit Kollegen des Team Liquigas während des Giro d’Italia im Mai 2008; © Damien Meyer/AFP/Getty Images

Bücher über Rennradfahrer sind in der Regel Heldengeschichten. Nicht so Charles Wegelius‘ Buch Domestik. Der ehemalige Radprofi beschreibt darin sein Leben als Arbeitstier im Peloton. Sein Job ist es, seinen Kapitän zum Sieg zu ziehen. Siegen dürfen die anderen.

Mit Domestik nimmt Wegelius dem Radsport einen großen Teil seines Glamours. Er berichtet vom Alltag der Profis und zeigt die nüchterne Seite des Sports, wie sie ein Großteil der Fahrer erlebt, die es nicht aufs Podium schaffen. Nach zehn Jahren im Rennradzirkus ist Wegelius mental und körperlich am Nullpunkt. Er steigt aus der Tour de France nach wenigen Tagen aus. Das Ende seiner Karriere ist greifbar, eine Karriere ohne Einzelsiege – dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen.

Wegelius, Jahrgang 1978, ist schon als Kind sportlich. Bei einer Radtour mit Bruder und Vater geraten die drei in ein Sommergewitter. Charly, der Jüngste, gibt Gas. Als er zu Hause ankommt, stellt er erstaunt fest, dass er die beiden gnadenlos abgehängt hat – er hat es noch nicht einmal gemerkt, weil er sich nicht umgesehen hat. Als die beiden anderen endlich ankommen, ist er bereits geduscht und aufgewärmt.

Kurze Zeit später macht er nichts anderes mehr als Rad zu fahren. Als Jugendlicher gewinnt Wegelius in England Rennen um Rennen. Bei der Weltmeisterschaft der Nachwuchsfahrer in Verona wird er 1996 erster britischer Meister bei der U23. Das beschert ihm einen Vertrag beim italienischen Rennstall Mapei. Einen besseren Einstieg kann er sich nicht wünschen: Mapei ist weltweit eines der finanzstärksten Teams, das den Nachwuchs fördert und Wert darauf legt, dass seine Fahrer sauber fahren.

Für drei Jahre taucht Wegelius in die perfekte Welt des Radsports ein: Er lebt in luxuriösen Unterkünften, genießt beste Trainingsvoraussetzungen und hat nette Kollegen, die ihn unter ihre Fittiche nehmen. Allerdings fördern ihn nicht die angehenden oder amtierenden Kapitäne, sondern die Domestiken. Das sind diejenigen Rennfahrer, die den Kapitän schonen. Sie nehmen ihn aus dem Wind, bringen ihm während der Fahrt Kleidung, Verpflegung und die Anweisungen aus dem Teamfahrzeug. Sie machen alles, um ihren Kapitän für die entscheidende Phase des Rennens bestmöglich zu positionieren.

Fast bis zur Selbstaufgabe

Die Mapei-Teamleitung schickt Wegelius zunächst noch los zum Siegen. Aufgrund fehlender Praxis und mangelnder Unterstützung unterlaufen ihm Fehler. Mit der harschen Kritik kann der Nachwuchsfahrer nicht umgehen. Er sucht nach einem Platz für sich im Profiradsport, Domestik zu werden erscheint ihm logisch.

Als Mapei aufgelöst wird, ergattert Wegelius einen Job bei De Nardi, einem zweitklassigen italienischen Team. Die Zeit ist hart. Um dazuzugehören, passt sich Wegelius fast bis zur Selbstaufgabe an, macht sich bei Rennen aber beliebt. Er ist überall und versorgt seine Kollegen mit dem, was sie brauchen: „Jeder mag den Burschen, der einem auf einer kalten Etappe ein Stück Schokolade oder etwas Warmes zu trinken reicht“, schreibt er. Die Arbeitsbedingungen sind unterirdisch. Geschlafen wird während der mehrwöchigen Touren und im Trainingslager in heruntergekommenen Absteigen. Die Betten sind durchgelegen, manchmal kriecht sogar Ungeziefer hervor.

Angespornt wird Wegelius von dem Ruf, den er sich im Peloton erarbeitet hat, und von der Anerkennung seiner Teamkollegen. Seine Leistung ist eng mit dem Lob seiner Kapitäne verwoben. Spürt er ihre Wertschätzung, kann er für sie über sich hinauswachsen. Als Domestik fehlt ihm aber die Unterstützung von der Teamleitung. Als er unter Dopingverdacht gerät, bekommt er die Kündigung. Er lässt sich auf eigene Kosten mehrfach testen und wird schließlich rehabilitiert.

© Covadonga Verlag
© Covadonga Verlag

Wegelius gewährt mit seinem Buch Laien einen Blick hinter die schillernde Kulisse des Rennradzirkus. Nachwuchssportler bekommen einen Eindruck von dem, was sie vielleicht im Peloton erwartet. Der Profiradsport sei kein Märchen, stellt der Autor am Ende des Buches fest. Domestik ist zwar ernüchternd, aber lesenswert.

Heute ist Wegelius sportlicher Leiter beim Team Cannondale-Garmin und war bei der diesjährigen Tour de France dabei – seine Radrennfahrer-Karriere beendete er nach elf Jahren frühzeitig.

Charly Wegelius: Domestik. Covadonga Verlag, 304 Seiten, broschiert. 16,80 Euro.