Das Timing ist geradezu unübertroffen. Im vergangenen Dezember hat der brasilianische Senat dem umstrittenen neuen Waldgesetz zugestimmt. Und in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag hat das brasilianische Unterhaus das Waldgesetz, das ihn nun viel weniger schützen soll, nach einer hitzigen achtstündigen Debatte mit 274 zu 184 Stimmen gebilligt. Und das knapp zwei Monate vor dem UN-Gipfel Rio plus 20, bei dem es in Rio eigentlich darum gehen soll, wie das Weltwirtschaftssystem „grün“ werden und wie Entwicklung nachhaltig werden kann. Es ist der dritte Weltgipfel zu Umwelt und Entwicklung (20.-22. Juni 2012) – und Brasilien steht als Gastgeberland gerade besonders unter Beobachtung.
Mit ein paar Tricks kann Präsidentin Dilma Roussef das Inkrafttreten des Gesetzes noch über den Gipfel hinwegretten. Und am Freitag deutete sich auch schon an, dass sie diese Chancen nutzen wird. Mit einem Veto kann Roussef das Gesetz zumindest noch etwas aufhalten. Sie wird es aber vermutlich nur gegen die umstrittensten Teile des Gesetzes einlegen. Das gibt ihr aber die Chance, vor den rund 100 Staats- und Regierungschefs, die sich für den Rio-Gipfel angemeldet haben, vor allem die Erfolge der brasilianischen Klimapolitik zu preisen, die tatsächlich beachtlich sind. Wenn sie wieder abgereist sind, könnte der Kongress die Präsidentin dann in Sachen Waldgesetz überstimmen und der durchlöcherte Waldschutz danach Recht werden.
Schon im Dezember kündigte Roussef an, sie werde kein Gesetz unterzeichnen, das eine Amnestie für das illegale Abholzen von Regenwald enthalte. Die hat die Agrarlobby im Kongress aber durchgesetzt. Für Wälder, die bis Ende 2008 abgeholzt wurden, soll es keine Strafen mehr geben, die Waldzerstörung also nachträglich legalisiert werden. Der grüne Entwicklungspolitiker Thilo Hoppe schreibt in einer Bewertung der Abstimmung, dass nach Angaben des brasilianischen Instituts für Weltraumforschung (Inpe) in allein 2012 eine Fläche von 388 Quadratkilometern Wald vernichtet wurde. Und weiter zitiert Hoppe die brasilianische Umweltministerin Izabella Teixeira: „Noch haben wir keine Erklärung für die Zunahme der Abholzung. Aber wir wissen, dass es Leute gibt, die glauben, dass sie am Ende amnestiert werden.“
Auf die Frage, ob er denn die Amnestie richtig fände, hat Eduardo Riedel, stellvertretender Vorsitzender des brasilianischen Landwirtschafts- und Viehzuchtverbands, bei einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung vor ein paar Wochen in Berlin, denn auch eher ausweichend geantwortet. Aber warum es die Parlamentarier in Brasilien womöglich gar nicht besonders kümmert, was die Welt von ihnen denkt, das konnte Riedel, der grundsolide und sympatisch ist, mit Zahlen gut erklären. Schließlich stehe knapp die Hälfte der gesamten Fläche Brasiliens unter Naturschutz. Allein die auf landwirtschaftlich genutzten Flächen vorgeschriebenen Schutzzonen nehmen nach Riedels Angaben elf Prozent der Landesfläche ein. Lediglich 27,7 Prozent der Landfläche werde für Ackerbau und Viehzucht genutzt. Gleichzeitig trägt die Landwirtschaft mit 20,2 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Brasiliens bei. Das sind 2011 nach Riedels Angaben immerhin 481,8 Milliarden US-Dollar gewesen. Das ist eine Größe, an der Roussef kaum vorbeikommt. Auf die Kritik des Waldgesetzes lächelt Riedel freundlich und fragt: „Wie groß ist denn die deutsche Landfläche, die unter Naturschutz steht?“
Gute Frage. Und sie ist tatsächlich gar nicht so leicht zu beantworten. Denn in Deutschland gibt es wegen der langen Tradition des Naturschutzes sechs verschiedene Schutzniveaus. Eine Antwort auf Riedels Frage lautet also: 29,9 Prozent der Landesfläche in Deutschland sind Landschaftsschutzgebiete, die sich allerdings dadurch von brasilianischen Schutzgebieten unterscheiden, als in diesen Gebieten teilweise eine landwirtschaftliche Nutzung möglich ist. Streng geschützte Naturschutzgebiete bedecken in Deutschland nach Angaben des Bundesamts für Naturschutz 3,3 Prozent der Landesfläche. Einen relativ strengen Schutz genießen die Flora-Fauna-Habitat-Gebiete und Vogelschutzgebiete, die immerhin rund 14 Prozent der Landesfläche einnehmen – darin sind die Naturschutzgebiete in weiten Teilen enthalten, und für diese Flächen gilt ein „Verschlechterungsverbot“. Aber es gibt auch noch eine andere Zahl, die Riedels Frage beantworten kann: 30 Prozent der deutschen Landesfläche sind mit Wald bedeckt. Darin gilt das deutsche Waldgesetz, das Kahlschläge verbietet.
Brasilien steht dann immer noch besser da. Aber mit dem neuen Waldgesetz könnte Brasilien in nicht allzu ferner Zukunft bei deutschenVerhältnissen ankommen. Und der brasilianische Regenwald ist wegen seiner Bedeutung für das Weltklima und seine Artenvielfalt dann doch nur schwer mit dem deutschen Forst vergleichbar. In Sachen Artenvielfalt ist Deutschland selbst bei bestem Naturschutz im Vergleich zum tropischen Regenwald eine Art Wüste. Die Artenvielfalt ist relativ gering. Umso wichtiger, dass nicht nur der grüne Thilo Hoppe sondern auch sein Kollege von der CSU, Christian Ruck, die brasilianische Präsidentin dringend zu einem Veto gegen das Waldgesetz aufgefordert haben. Denn sonst ist die Debatte darüber, wie die Erhaltung der Wälder im Vergleich zu deren Abholzung lukrativer gemacht werden kann – im UN-Jargon heißt das REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Degradation), schon bald relativ sinnlos.