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Fall Yagmur

„Nach Schema F“

 

Der Hamburger Untersuchungsausschuss zum Tod der dreijährigen Yagmur hat seinen Bericht fertig. Ein hartes Urteil über die Sozialbehörde blieb darin aus.

Vor einem Jahr starb die kleine Yagmur aus Hamburg-Billstedt. Das Mädchen war von ihrer Mutter zu Tode geprügelt worden. Sie könnte noch leben, wenn die Behörden aufmerksamer, koordinierter gehandelt hätten. Wenn das Bewusstsein für ein Kindesleben nicht im dichten Geflecht der Zuständigkeiten verloren gegangen wäre.

Im Fall Yagmur haben fast alle Instanzen nach Vorschrift gehandelt und ihre Aufgaben erledigt. Aber mehr auch nicht. „Das war bürokratisches Vorgehen nach Schema F“, hieß es dazu am Donnerstag im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der seinen Abschlussbericht präsentierte. Seit März hatte sich das Gremium um Aufklärung bemüht, Pädagogen, Sozialarbeiter, Richter, Mediziner in 20 langen Sitzungen verhört.

Sicher ist eines: Die Frage, ob die Versäumnisse Einzelner zum Tode Yagmurs geführt haben oder das Jugendhilfesystem in Gänze versagt hat, ist hinfällig. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Ja, gravierende Fehler können allen Beteiligten vorgeworfen werden. Informationen wurden verschleppt, einfache Antworten akzeptiert und kritische Fragen nicht gestellt – aus Zeitmangel, aus Desinteresse, aus Furcht vor den Folgen einer Kompetenzüberschreitung. Also tat jeder so viel, wie er eben musste. Doch die Schuld allein den Jugendamtsmitarbeitern zuzuweisen, gegen die wegen Verletzungen der Fürsorgepflicht ermittelt wird, wäre allzu leicht.

Denn interne Berichte aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) gewähren Einblick in ein desolates System: Die Lage im Jugendamt beschrieb Abteilungsleiter Matthias Stein vom Hamburger Bezirk Eimsbüttel vor dem Ausschuss als „Super-GAU“. Wegen Personalmangels, schlechter Bezahlung und Überlastung sei das Amt „praktisch arbeitsunfähig“. Dazu komme ein Millionen Euro teures, kompliziertes Datenbanksystem, das die Arbeit erschwere. Die Folge: Ein Sozialarbeiter betreue bis zu 100 Fälle, die Bürokratie sei wichtiger als der Kontakt zu den Familien, sagte Stein. Für die schwierigen Fälle von Kindesgefährdung bleibe kaum noch Zeit.

Die Kritik ist nicht neu. Ein Lagebericht aus dem Jahr 2012 hatte gezeigt, dass „eine qualifizierte Einschätzung der Risikolagen“ in den Hamburger Jugendämtern wegen Personalmangels nicht möglich ist. Die Leidtragenden sind die Kinder. Ob Jessica, Chantal oder Yagmur: Kinder sterben in Hamburg, quasi unter den Augen der Jugendämter. Doch geschehen ist seither wenig. Sozialsenator Scheele wusste um die Situation in den Jugendämtern, doch seine Behörde reagierte zu langsam. Ein für Ende 2013 angekündigtes Personalbemessungssystem etwa soll nun frühestens 2015 fertig werden.

32 Empfehlungen zur Verbesserung des Jugendschutzes hat der Untersuchungsausschuss zusammengetragen. Das Kindeswohl müsse im Vordergrund stehen, Eltern soll bei einer Gefährdung des Kindes leichter das Sorgerecht entzogen werden können, eine enge Zusammenarbeit zwischen Jugendamt, Kita, Polizei und Familiengerichten sei nötig. Keine innovativen Gedanken – Selbstverständlichkeiten, die zeigen, wie es um den Jugendschutz steht. Dass der Bericht keinen Zusammenhang zwischen der Personalsituation im Jugendamt und dem Tode Yagmurs feststellt, ist erstaunlich. Hier hat sich die SPD offenbar durchgesetzt und die Sozialbehörde vor einem harten Urteil verschont.

Laut Polizeistatistik sterben in Deutschland jede Woche drei Kinder durch Gewalt oder Vernachlässigung. Dieser traurigen Realität muss sich eine Gesellschaft stellen und Antworten finden. In Hamburg funktioniert das noch nicht. Nun müssen politische Konsequenzen folgen. Die Frage, ob das Jugendhilfesystem in Hamburg anders strukturiert werden muss, wird sich bis in die nächste Legislaturperiode ziehen. Ein realistischerer Ansatzpunkt wäre eine Verbesserung der Situation in den Jugendämtern. Denn über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, das ist ein schweres Unterfangen. Es gilt nun, gute Arbeitsbedingungen für Fachkräfte zu schaffen und eine Kultur des Hinschauens zu fördern, in der ein Mensch mehr gilt als Vorschriften und Paragrafen.