Wenn es Benjamin Netanjahu gelingen sollte, in der laufenden Nachspielzeit doch noch eine Regierung zu bilden, wird Präsident Obama in genau zwei Wochen seine erste Israelreise (im Amt) antreten. Er wird dann auch in Ramallah erwartet. Aus Gesprächen mit gut informierten palästinensischen Kreisen konnte ich folgende Einschätzung der Lage in der Region destillieren. Ich gebe hier wertfrei eine (!) palästinensische Sicht wieder, so weit sie sich mir erschließt. Im Licht der Umbrüche rings um Israel und Palästina schien es mir interessant, die Lage gegen den Strich zu bürsten. Wie gesagt, das folgende ist nicht meine Einschätzung, sonder eine Rekonstruktion.
Israel ist sehr zufrieden mit der Waffenruhe nach dem letzten Gaza-Krieg. Es hat, bis auf eine folgenlos gebliebene Rakete, die gen Aschdod gefeuert wurde, keinen Zwischenfall gegeben. Israelische Sicherheitskräfte haben ihrerseits in den letzten Wochen viele Male eingegriffen. Obwohl die andere Seite diese Aktionen als Bruch der Waffenruhe hätte sehen können, wurde auf Reaktionen verzichtet.
Israel ist auch sehr zufrieden mit der Kooperation der Ägypter unter Mursi. Tunnel werden geschlossen, geflutet und zerstört, ein Gericht in Kairo hat das so verfügt. Mursi hat die Streikräfte zu strikter Bekämpfung islamistischer Gruppen im Sinai angewiesen. Der Bewegungsraum der Hamas hat sich nicht verbessert. Hamas ist enttäuscht bis entsetzt, man hatte sich von Mursi und der MB mehr versprochen. Doch der tut alles, um sich gegenüber Israel und USA als zuverlässig zu erweisen. Kerry hat bei seinem Besuch denn auch gleich einmal 250 Mio Dollar zugesagt.
Mursi ist derzeit für Israel besser als Mubarak, noch nie war die Sicherheitszusammenarbeit so gut. Was Hamas nicht versteht: Es geht Mursi um die Konsolidierung der Macht in Ägypten, und da stört Gaza derzeit nur. Er braucht Ruhe an dieser Front, um das eigentlich MB-Ziel voranzutreiben: Den Staat unter seine Kontrolle zu bringen. Israel und Gaza sind nicht relevant bzw. können warten. Man muss zunächst Staat und Gesellschaft in Ägypten durchsetzen und islamisieren, bevor man sich solchen Zielen zuwendet. Die Verbreitung des Islams und die Islamisierung der Gesellschaft sind wichtigere Ziele als das Wohl der Palästinenser.
Israel kann damit derzeit sehr gut leben. Es möchte gerne eine Freihandelszone zwischen Ägypten und Gaza sehen, als ersten Schritt auf dem Weg, Gaza an Ägypten anzugliedern. Mursi will das nicht. Er sieht genau, dass er sich mit den schwer kontrollierbaren radikalen Gruppen in Gaza nur Ärger einhandeln würde.
Der Westen macht mit seiner Unterstützung Mursis den gleichen Fehler wieder, den schon die Politik gegenüber Mubarak machte: Stabilität auf Kosten von Freiheit und Demokratie. Man orientiert sich schlicht an den neuen Machthabern und den bestorganisierten Kräften – also der MB – und scheut die Einmischung, um das fragile Machtgefüge nicht zu gefährden.
Die westliche Haltung im Konflikt in Syrien ist aus palästinensischer Sicht derselben falschen Gleichgewichtspolitik geschuldet: das Land soll ausbluten. Man duldet die Waffenlieferungen an die die Rebellen, auch an die extremsten Dschihadisten, solange sie zu einem Patt mit der Regierung führen. Mehr tut man dann aber bezeichnender Weise nicht. Es ist darum lächerlich, dass nun schon seit über einem Jahr immer wieder gesagt wird, „die Tage von Assad sind gezählt“. Es scheint dem Westen gar nicht unrecht zu sein, dass sich eine neuer Status Quo einpendelt, der das Land lähmt, weil es mit sich selbst beschäftigt ist. Assad hat seine Fähigkeit verloren, in der Region zu stören, die Aufständischen können das ganze Land einstweilen nicht kontrollieren. So weit ist das erst einmal das bestmögliche Ergebnis. Sollten sich die Islamisten auch hier durchsetzen, wird der Westen einen Deal machen, wie er sich mit Ägypten bereits abzeichnet.
Das Gleiche ist zu erwarten, wenn Hamas sich unter den Palästinensern durchsetzen sollte. Der Westen setzt überall auf die vermeintlich starke Kraft, die MB und ihre Offshoots. Hamas hätte bei freien Wahlen in der Westbank gute Chancen. In Gaza ironischer Weise nicht, weil die Menschen dort nur Korruption, Unfreiheit und Inkompetenz erlebt haben. Khaled Meschal, der Hamas-Chef, rechnet sich aus, Abbas‘ Nachfolger als palästinensischer Präsident zu werden.
In der Westbank ist sie Lage sehr angespannt. Wegen der Finanzkrise und den israelischen Strafmaßnahmen (Steuergelder wurden nach der UN-Abstimmung einbehalten) sind viele Beamte und Sicherheitskräfte seit Monaten ohne Lohn. Hungerstreiks von Gefangenen und Demonstrationen wegen des Todes eines Gefangenen in israelischer Administrativhaft zwingen die PA, auf einem „sehr dünnen Draht“ balancieren. Es gibt allerdings kein Interesse an Chaos, das Vorwände für israelisches Eingreifen bieten würde.
Wenn die PA gewaltsam gegen Demonstranten vorgeht, könnte das eine Revolution auslösen. Israel hat auch Angst vor einer dritten Intifada: Die einbehaltenen Steuern wurden nach den jüngsten Unruhen sofort überwiesen, jedenfalls für den Monat Januar. Der Ärger wegen der UN-Anerkennung war da nicht mehr so wichtig.
Von Obamas Besuch wird nicht viel erwartet. Es ist klar, dass er nicht mit einer großen Initiative kommt. Worin sollte sie auch bestehen? Aus palästinensischer Sicht gibt es nichts Grundlegendes mehr zu verhandeln, nur Prozedurales, wenn man denn eine Zweistaatenlösung will.
In Annapolis wurde bereits der entmilitarisierte Status des Westjordanlandes unterschriftsreif ausverhandelt. „Wir wollen keine Armee, keine Luftwaffe, keine Panzer.“ Aber eben auch keine israelische Präsenz nach der Einigung. Eine internationale Präsenz – Uno, Nato, USA, egal wer – soll den legitimen israelischen und auch den palästinensischen Sicherheitsinteressen Rechnung tragen. Inklusive Frühwarnstationen für Israel, aber eben nicht besetzt mit israelischen Soldaten.
Über den Status Jerusalems gibt es ebenfalls nichts Grundsätzliches zu verhandeln. Als künftige Hauptstadt ist es unaufgebbar. Es geht auch hier nur um das Wie, nicht das Ob.
Die Grenzen von ’67, mit wechselseitig akzeptablem Landtausch, müssen Grundlage sein. Auch beim Rückkehrrecht für Flüchtlinge kann es nicht ums Prinzip gehen, das unverhandelbar ist, sondern nur um die Zahl. Hier war mit Olmert schon eine Einigung erzielt. Man muss also nicht bei Null anfangen.
Verhandlungen auf solcher Grundlage sind höchst unwahrscheinlich. Es gibt kein Vertrauen in den israelischen Willen hierzu.
Dazu tragen auch Berichte bei, dass an der Alternative zur Zweistaatenlösung gearbeitet werde. Weil auch in Israel der Glaube daran schwindet und Netanjahu sie ohnehin nicht will, gewinnt die Idee einer Konföderation der palästinensischen Gebiete mit Jordanien erneut an Fahrt.
Diejenigen Teile der Westbank, in denen palästinensische Verwaltung herrscht, würden dann mit Jordanien zusammengeschlossen, und die Palästinenser könnten politische Rechte in dieser Konföderation erhalten – statt in einem eigenen Staat. Netanjahu hat in den letzten Wochen mehrfach mit König Abdullah gesprochen, offiziell über den Friedensprozess und Syrien, aber sicher auch über die Idee der Konföderation.
Es sei nicht unwahrscheinlich, dass Jordanien auch bald eine MB-geführte Regierung bekomme. Den Muslimbrüdern passe die Konföderations-Idee gut in den Kram. Für sie sind Territorialfragen ohnehin nicht so wichtig wie die Herrschaft des Islams, für den man die politische Macht brauche. Man denke in langen Zeiträumen. MB an der Macht in Ägypten, Gaza, Jordanien – und dann auch in der Westbank – das ist viel wichtiger und erstrebenswerter als die Erringung eines (ohnehin nur eingeschränkt) souveränen Nationalstaats auf dem Restgebiet der Westbank, wie es Abbas anstrebt.
Dass die prioritäre Verfolgung des Zieles der Machtergreifung durch die MB mit der Verhinderung eines solchen Staates in der Westbank bestens zusammengeht, schafft unwahrscheinlichste Interessenkoalition, meint die ziemlich desillusionierte palästinensische Quelle: eine (geheime) Koalition nämlich zwischen den Muslimbrüdern und der israelischen Regierung, deren wichtigstes Ziel ja ebenfalls genau in dieser Verhinderung besteht.