Ein Geschichte von Susan Kreller und Antje Drescher
Drüben im Neunerwald steht ein Haus. Fenster, Mörtel, Stein auf Stein. Alles da. Trotzdem ist die Geschichte erstunken und erlogen. Denn drüben im Neunerwald steht gar kein Haus. Da steht nur das, was von ihm übrig geblieben ist: eine große Wand mit zwei kleinen Fenstern ganz oben. Aber Haus oder nicht Haus, wen kümmert das?
Es gibt ganz genau zwei, die leben trotzdem dort. Auf der Honigseite bei den fünfzehn Akazien wohnt Brauner Bär. An der Wand hat er sich einen Verschlag gebaut. Gegen den Regen und auch gegen den Waldwind, der seine Frisur zerstört.
Auf der anderen Seite der Wand wohnt das Kieselschwein. Kieselschweine sind Wildschweine wie du und ich, nur dass sie zum Leben einen Kieselsteinweg brauchen, ordentlich geharkt, mit Blumen an den Rändern. Und genau so einen Weg gibt es auf der anderen Seite der Wand.
Eigentlich war es das schon, was es zu berichten gibt. Brauner Bär und Wand und Kieselschwein. Nur leider ist da noch eine winzige Sache, die die Geschichte ein paar Zentimeter länger macht. Brauner Bär und Kieselschwein kennen sich nämlich gar nicht. Brauner wer? Sie leben Wand an Wand, und keiner hat die geringste Ahnung, dass er nicht alleine ist. Und es ist auch gut so, wie es ist. Wenn man gar nicht weiß, dass man nicht alleine ist. Brauner Bär kann in aller Ruhe seinen Honig von den Akazien stehlen. Das Kieselschwein kann sich genüsslich in seinen Kieselsteinen suhlen. Genau richtig ist das Leben und so schön, dass jeder getrost auf seiner Seite des Waldes bleiben kann. Was will man denn noch mehr, was denn? Nur zwei Dinge sind seltsam. Erstens. Brauner Bär und Kieselschwein haben genau die gleiche Krankheit: Ohrensausen.
Nacht für Nacht für Nacht hat Brauner Bär ein Grunzen im Ohr und das Kieselschwein ein fürchterliches Brummen, von dem alle Träume Risse bekommen! Zweitens. Brauner Bär und Kieselschwein haben genau die gleiche Sehnsucht. Diese kleine, warme Sehnsucht, dass man irgendwo jemanden trifft, mit dem sich ein Honigbrot teilen lässt oder ein Kieselstein oder ein Glück. Dass die Sehnsucht ausgerechnet in diesem Herbst am allerstärksten ist, beim Bären wie beim Schwein, nun ja, das soll ja vorkommen. Vor lauter Sehnsucht kann Brauner Bär seit Wochen nicht richtig einschlafen. Immer denkt er, dass er viel zu viel Honig für diesen Winter hat. Allein schafft er den nie!
Auch das Kieselschwein wälzt sich nachts unruhig in seiner Schlafgrube umher, hin und her und her und hin. Immer denkt es, dass der Kieselsteinweg für ein Einzelschwein viel zu breit und viel lang ist. Und dann, an einem dieser windschiefen Tage, ist es soweit. Es reicht. Genauso denkt es Brauner Bär, und das Kieselschwein würde es nicht anders ausdrücken. Einsamkeit bis unter die Decke. Auch wenn es gar keine gibt. Aber Glück gehabt! Gegen große, wilde Einsamkeiten gibt es ein altes Hausmittel: Bilder. Man nagelt sich einfach Bilder an die Wand, Bilder von Braunen Bären oder Kieselschweinen oder von Antilopen, falls man zufällig eine Antilope ist. Das ist gut für die Nachtruhe und streichelt das Sehnsuchtsherz.
Brauner Bär kauft sich siebenunddreißig eingerahmte Bärenbilder in dem Städtchen, das an seine Seite des Waldes grenzt. Im »Kunstatelier Alois Kirgisius ohne Söhne«, der besten Adresse für Bärenbilder weit und breit. Das Kieselschwein kauft sich zweiundvierzig Schweinebilder in dem Dörfchen, das an seine Seite des Waldes grenzt. Beim Bruder von Alois Kirgisius, der sogar Söhne hat. Die helfen dem Kieselschwein aber leider nicht dabei, die zweiundvierzig Nägel in die Wand zu schlagen.
Und auch Brauner Bär muss alle seine Nägel selbst in die Wand hämmern, siebenunddreißig Stück, einen ganzen Tag lang. Doch als nach vielen Nagelstunden die Bilder endlich hängen, merken Brauner Bär und Kieselschwein etwas, jeder für sich allein. Sie merken, dass die Sehnsucht immer noch da ist. Riesengroß und warm wie Kakao. Und sie merken noch etwas. Etwas Gewaltiges.
Die Wand fällt in sich zusammen. Sie haben sie mit ihrer Sehnsucht kaputtgenagelt. Stein um Stein fällt herunter, und Brauner Bär und das Kieselschwein können froh sein, dass sie noch ihre Schutzhelme vom Bilderaufhängen tragen.
Steine, Steine, Bilderrahmen, Staub und Donnergrollen. Irgendwann liegt da nur noch ein grauer Haufen, ein kleines Häuschen Unglück. Oder Glück? Denn kaum ist die Wand weg, macht Brauner Bär eine Entdeckung: Er erblickt einen anderen Bären, der nur ein bisschen wie ein Kieselschwein aussieht. Und auch das Kieselschwein erkennt etwas: Ein anderes Kieselschwein, das nur ein bisschen wie ein Bär aussieht.
Sie stehen da, Brauner Bär und Kieselschwein, sie sehen sich zwei Stunden und dreißig Minuten lang nur an. Dann holt Brauner Bär den letzten heil gebliebenen Honigtopf und geht damit eindeutig in Kieselschweinrichtung. Und hier ist die Geschichte zu Ende, und hier fängt sie eigentlich erst an.
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