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KinderZEIT Lesesommer 2010: Ich, Gorilla und der Affenstern – letzter Teil

 

ENDE GUT, ALLES GUT? Jonna und ihre Adoptivmutter Gorilla wollen zusammenbleiben. Leider ist Bürgermeister Tord dagegen. Er will, dass Jonna im Kinderheim Rainfarn aufwächst. Deshalb bleibt Jonna und der Affendame nur ein Ausweg: Sie müssen fliehen…

Von Frida Nilsson

Draußen vor dem Schrottplatz stand das gelbe, runde Schild, das Tord dort aufgestellt hatte. »Hier baut die Stadt das größte Schwimmbad Nordeuropas.« Gorilla schnaubte und schloss die Tür auf. Die Uhr in der Küche zeigte schon fast drei Uhr. »Was willst du mitnehmen?« Ich zuckte mit den Schultern. »Mein Fahrrad«, sagte ich. »Und du?« Gorilla kratzte sich am Kinn. Ungerührt wanderte ihr Blick über den Küchentisch, ihr Bett und den Sessel. Dann blieb er an den Bücherregalen hängen. »Die Bücher?«, fragte ich. »Mehr als dreitausend Stück?« – »Nee«, sagte Gorilla und versuchte, gleichgültig auszusehen. »Das geht nicht. Wir werden sie hierlassen müssen.«

Sie schluckte und fing an zu pfeifen. Ich dachte einen kleinen Moment nach. »Doch«, sagte ich. »Das geht. Wenn wir den Campingwagen nehmen.« – »Aber dann kommen wir ja frühestens in ein paar Stunden los«, sagte sie und starrte mich an. »Da ist es schon hell!« – »Wir schaffen es trotzdem«, sagte ich. »Du kannst nicht ohne die Bücher fahren. Aber vorher musst du den Campingwagen reparieren, der hat nämlich nur einen Reifen.« Gorilla nickte eifrig. Sie eilte zum Haken neben der Tür, griff nach der Hahnentrittschiebermütze und setzte sie auf. »Kannst du in der Zwischenzeit packen?«, fragte sie. »Klaro. Reifen sind hinter dem Klohäuschen, in verschiedenen Größen.« Sie schob die quietschende Hintertür auf und verschwand nach draußen.

Ich suchte mir alle Tüten und Kartons zusammen, die ich finden konnte, dann packte ich. Die größten Bücher in die größten Kisten. Die kleinsten in die dünnsten Plastiktüten. In der Küche tickte die Uhr, ich hätte vor Müdigkeit total erschlagen sein müssen, aber ich war es nicht. Wir würden abhauen. Zusammen. Und nie mehr etwas mit Gerd zu schaffen haben und nie mehr ein Wort über Tord hören müssen.

Es war schon fast fünf, als Gorilla zurück ins Haus kam. »Das war’s!«, sagte sie und schleuderte die Kappe auf den Boden. »Ich konnte den Wagenheber nicht finden, und es war eine verdammte Plackerei, das Rad anzuschrauben und gleichzeitig den ganzen großen Kasten mit dem eigenen Rücken hochstemmen zu müssen, aber jetzt ist es dran. Jetzt helfe ich dir beim Packen.«

Noch ein paar Stunden später stand das ganze Haus voller Tüten und Kisten. Als Allerletztes legte ich das hellbraune Buch von Charles Dickens dazu. Oliver Twist. »Dann koppeln wir jetzt den Anhänger ans Auto und fahren vor«, sagte Gorilla. Wir stiegen in den Volvo. Gorilla ließ den Motor an und zerrte am Schalthebel. Die Schaltung krächzte und blockierte. »Dieser Schaltknüppel ist doch zum Wahnsinnigwerden!«, schimpfte sie. »Ich bekomme den Rückwärtsgang nicht rein.« – »Ich glaube, du hast nur die Kupplung nicht ganz durchgetreten«, sagte ich. »Vielleicht bist du ein bisschen müde.« Gorilla machte große Augen. Sie versuchte, ärgerlich auszusehen, weil ich so vorlaut war, aber sie konnte doch nicht verbergen, dass es ihr eigentlich gefiel: wie gut ich Auto fahren konnte. Sie trat das Kupplungspedal ordentlich durch und legte den Rückwärtsgang ein.

Im Hinterhof machten wir den Wohnwagen fest und fuhren vor den Vordereingang. Dann schleppten wir Bücher, bis die Rücken schmerzten. Es wurde heller und heller. Als die letzte Tüte endlich verstaut war, mein rotes Fahrrad auf dem Rücksitz lag und der Porzellanwichtel mit dem abgebrochenen Arm auf dem Armaturenbrett stand, gab Gorilla einen erleichterten Seufzer von sich. »Dann kann’s ja losgehen«, sagte sie. Aber just in dem Moment, als sie das Auto anlassen wollte, hielt sie inne. »Verflixt«, sagte sie, »ich habe etwas vergessen.« Sie sah mich geheimnisvoll an. »Ich habe eine Überraschung. Warte hier.« Sie stieß die Tür auf und verschwand im Haus.

Ich lehnte mich im Sitz zurück. Schließlich machte sich die Müdigkeit doch bemerkbar, aber als ich an all das Neue dachte, das vor uns lag, zogen sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben. Weit weg an einen unbekannten Ort wollten wir. Die Augenlider waren mir gerade zugefallen und hatten es sich bequem gemacht, als ich hörte, wie ein Auto heranraste. Ich schlug die Augen auf und drehte mich um. Es war ein Gefühl, als würde mir das Herz in den Hals springen und mir die Luft abschnüren. Tords schwarzes Auto! Durch die Windschutzscheibe konnte ich sein angespanntes hartes Gesicht erkennen. Neben ihm saß Gerd. Wir hatten uns zu lange aufgehalten! Gerd hatte bemerkt, dass ich weg war, und Alarm geschlagen.

»GORILLAAAAAAA!«, schrie ich. Aber Tord war schon da und riss die Autotür auf. Er packte meinen Arm und zerrte mich nach draußen. Ich stolperte auf den Boden. Im selben Moment tauchte Gorilla in der Haustür auf. Sie hielt ein kleines schwarzes Kästchen in der Hand, aber sie schleuderte es sofort auf den Boden und stürmte mit rasendem Gebrüll auf uns zu. Tord versetzte ihr einen Stoß. Eigentlich war er ja nicht einmal halb so groß wie Gorilla, aber auf dem nassen Untergrund rutschte sie aus und fiel rückwärts in den Matsch. Tord richtete seinen Hut. »Das hier ist nichts anderes als Kidnapping!«, keuchte er, bebend vor Zorn. »Und wenn ich eine Entscheidung gefällt habe, dann hat sich niemand dem zu widersetzen! Ich bin der Bürgermeister dieser Stadt, verflixt und zugenäht!«

Er schleifte mich zu seinem Auto. Verzweifelt versuchte ich, irgendetwas zu greifen, an dem ich mich festhalten konnte, aber meine Finger rutschten einfach durch den Matsch und über die kleinen Steinchen. Der Dreck pikte unter den Nägeln, und ich schürfte mir die Handflächen auf. »Hoch mit dir!«, brüllte Tord. »Komm hoch und lauf!« Aber da kam Gorilla auf die Füße und stürmte hinter uns her. »Wir werden von hier verschwinden!«, knurrte sie. »Und Jonna bleibt bei mir!« Mit ihren riesigen Pranken bekam sie Tords Hals zu fassen. »Was machen Sie da!«, ächzte er. »Sie erwürgen mich ja!« Er wurde schon blau und rot im Gesicht. »Vorsicht!«, rief ich.

Da ließ Gorilla ihn los. Tord machte eine Faust und boxte ihr mitten auf die Schnauze. Sie stolperte rückwärts, verhedderte sich in ihren ausgeleierten Leggins, ruderte ein paar Umdrehungen mit ihren Armen, versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden… aber schließlich fiel sie doch. In einer ganz unnatürlichen Haltung landete sie mit verdrehtem Fuß auf dem Boden und brüllte Zeter und Mordio. Dann blieb sie reglos liegen. »Sei’s drum«, sagte Tord. »Du kommst jetzt mit.« Wieder packte er meinen Arm. »Nein!«, schrie ich. »Lass loooos!«

Peng! machte es da plötzlich. Für einen kurzen Moment stand Tord vor mir und starrte einfach nur in die Luft, dann blinzelte er verdattert mit seinen ausdruckslosen Augen und plumpste lautlos in den Matsch. Wie versteinert blieb ich stehen. Da fiel mein Blick auf Gorilla, die mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden lag. In der Hand hielt sie eines dieser gelben Schilder, das sie Tord auf den Kopf gedonnert hatte. Eine Stadt mit Fortschritt.

Gerd stürzte aus dem Auto. »Ist er tot?«, heulte sie. »Nein«, sagte ich. »Er atmet.« Nervös trippelte sie auf der Stelle. »Ja-a«, sagte sie und schaute von mir zu Gorilla. »Das hier ist aber auch wirklich zu dumm. Kidnapping…« Gorilla schnaubte. Ich rannte zu ihr und versuchte, sie hochzuziehen. »Hilf mir!«, rief ich Gerd zu, die mich anstarrte, als hätte ich sie gebeten, mir mit einem Feuer speienden Drachen behilflich zu sein und nicht etwa mit einer verletzten Gorilla. »Ich weiß nicht«, piepste sie. »Soll ich in meinem Alter dieses Ungetüm…« – »Ich tu dir nichts«, sagte Gorilla. »Versprochen. Hilf mir nur dieses eine Mal.«

Gerd zögerte. Aber dann kam sie angewatschelt und half mir, Gorilla vom Boden hochzuziehen. Sie betrachtete unser großes Haus. »So, so«, murmelte sie. »Du bist tatsächlich all die Jahre hiergeblieben?« Gorilla sah sie überrascht an. »Du klingst so verwundert«, knurrte sie. »Als hättest du dir darüber Gedanken gemacht.« – »Ach ja?«, sagte Gerd mit zitternder Stimme. »Ja, nein, ich meinte nur… Wie schön, dass es dir im Leben so gut ergangen ist.« Gorilla wandte sich zu mir. »Ich kann nicht fahren«, sagte sie. »Der Fuß ist kaputt. Verstaucht.« – »Du musst!«, rief ich. »Wir müssen jetzt hier weg, bevor er zu sich kommt!« Ich schielte zu Tord, der sich ein wenig bewegte. Gorilla nickte. »Setz dich auf den Fahrersitz«, kommandierte sie. »Leg ein Buch auf das Polster, und dann steig ein.« – »Ich?«, sagte ich. »Das Kindchen soll fahren?«, fragte Gerd einfältig. »So was hab ich ja noch nie gehört!«

Als ich das hörte, wurde ich so langsam wirklich ärgerlich. »Alles klar«, sagte ich kalt. »Steig ein.« Ich holte ein Buch aus dem Campingwagen. Alles über die französische Küche hieß es, und es war mächtig dick. Ich legte es auf den Fahrersitz. Gorilla hatte sich mühsam auf den Beifahrerplatz gekämpft. »Dann fehlt uns nur noch die Sache, die ich auf den Boden geworfen habe«, sagte sie. Ich ging das kleine schwarze Kästchen holen. Es war ein Lederetui mit glänzendem Knopf. »Was ist das denn?«, fragte ich. Gorilla zwinkerte. »Eine Kamera«, sagte sie lächelnd. »Ich habe doch gesagt, dass wir unseren nächsten Ausflug verewigen werden.« Ich rannte um das Auto herum und setzte mich auf den Fahrersitz, den Gorilla so weit wie möglich nach vorne geschoben hatte.

Gerd kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich weiß nicht … weiß nicht, ob ich das hier zulassen kann«, sagte sie. Gorilla streckte den Kopf aus dem Auto. »Doch, das kannst du«, sagte sie. »Denn das bist du mir schuldig. Und das weißt du auch.« Gerd sah sie lange an. »Ja«, erwiderte sie, »vielleicht ist das so.« Dann streckte sie ihren Mini-Würstchen-Finger in die Luft. »Aber ich werde sagen, dass ich dazu gezwungen wurde! Sonst buchten sie mich ein.« Sie beugte sich hinunter und lächelte mich an. »Mach’s gut, Kleinchen. Und wehe, du kommst hinterher an und beschwerst dich bei mir, weil das hier in die Hose gegangen ist.« – »Nein«, sagte ich. »Tschüss!« Wir schlugen die Türen zu. »Kommst du an die Kupplung?« – »Ja«, antwortete ich, aber ich musste mich ganz schön strecken.

»Also dann«, wies Gorilla mich an, »Schlüssel umdrehen!« Ich drehte den Schlüssel, und der Volvo sprang an. »Erster Gang.« – »Ich weiß«, sagte ich. – »Die Kupplung langsam kommen lassen.« – »Ich weiß.« Ich löste die Handbremse … und der Wagen rollte vorwärts. Ich fuhr im Bogen über den Hof und dann hinaus auf die Straße. »Na, also das ist ja wie verhext!«, trompetete Gorilla. »Du fährst besser als ich! Und sogar mit Anhänger und allem Drum und Dran! Ich habe ja gleich gesagt, dass du ein Wunderkind bist.« Ich gab Gas. Und während wir durch das alte Industriegebiet fuhren, summte es in meinem ganzen Körper. »Tja«, sagte ich und warf einen letzten Blick auf Pärsons Reparaturservice. »Dann wird hier wohl doch bald ein Schwimmbad stehen.«

Gorilla lächelte höchst zufrieden. Immer höher zogen sich ihre Mundwinkel. »Was ist denn?«, fragte ich. »Ach, nichts Besonderes«, entgegnete sie. »Nur dass ich seinen Kaufvertrag nie unterschrieben habe.« – »Was?«, sagte ich. »Natürlich hast du das gemacht, ich habe es doch selbst gesehen.« – »He-he! Selbstverständlich habe ich etwas auf das Blatt gekritzelt, aber nicht meinen Namen. Du weißt ja…« Sie legte den Kopf in den Nacken und hielt die Hände hoch. »Wenn man so große Pranken hat, passieren leicht mal Fehler, da sieht dann alles aus wie Krähenfüße.« Sie schmunzelte. »Ich würde zu gerne sehen, wie sehr er sich freut, wenn er das bemerkt. Es dürfte ganz schön schwierig für ihn werden, sich das Grundstück unter den Nagel zu reißen, wenn der Besitzer nicht ausfindig zu machen ist. He-he.«

Als wir eine Weile gefahren waren, räusperte ich mich. »Aron aus dem Kinderheim hat mir etwas erzählt«, sagte ich. »Ich dachte, er hätte sich das ausgedacht, aber… Er hat erzählt, dass Gerd sich mal ein Kind vom Hals geschafft hat. Weil sie es nicht leiden konnte.« Gorilla nickte. »Ja, doch«, sagte sie und schaute zum Fenster hinaus. »Die Geschichte habe ich auch schon gehört. Dieses Kind passte nicht in ihr feines Kinderheim. Es war sicher beides – hässlich und immerzu im Weg. Jemand hat gesagt, dass Gerd es jedes Mal in den Wald jagte, wenn Leute kamen, um sich ein Kind auszusuchen.« – »Mm-m«, sagte ich. »Und eines Nachts hat sie das Kind auf den Gepäckträger gesetzt und ist mit ihm zu irgendeiner verlassenen Bruchbude gefahren.« Gorilla nickte wieder. »Ja, das habe ich auch gehört. Ein verfallenes Haus am Rande der Stadt. Und dann dachten alle, dass das Kind dort wohl gestorben sein musste, denn es war ja erst … acht, nicht wahr?« – »Genau das habe ich auch gehört«, sagte ich. »Dass es gestorben ist.«

Gorilla blickte lange aus dem Fenster. »Ja…«, murmelte sie. »Obwohl man nie wissen kann. Manche Kinder sind doch zäh. Ich bilde mir ein, dass es am Ende gut für sie ausgegangen ist.« – »Ich auch«, sagte ich.

Wir schwiegen eine Weile. »Vielleicht könnte man irgendwo ein Antiquariat eröffnen«, sagte Gorilla dann. Ich nickte. Wir ließen die letzten Villen am Stadtrand hinter uns.
Adieu, Gerd. Adieu, Tord. Hallo, Abenteuer.
»Hallo, Aron, ich schreibe Dir, damit Du Dir keine Sorgen machst oder Dich fragst, wie es mir wohl geht. Mir geht es nämlich gut und Gorilla auch. Hier, wo wir sind, ist es warm, Gorilla badet jeden Tag im Meer. Jetzt ist wohl schon Frühling im Rainfarn? Ich nehme an, Ihr müsst ganz schön viel arbeiten! Aber wenn Du mal Deine Ruhe haben willst, dann kann ich Dir einen Tipp geben. Kennst Du den Bach, der hinter dem Holzschuppen vorbeifließt? Wenn man ihm ein Stück in den Wald hinein folgt, dann kommt man bald an einen ganz besonderen Ort. Eine Lichtung. Mittendrin steht ein Felsen, so bequem wie ein Sessel. Auf dem Foto, das ich Dir mitgeschickt habe, kannst Du mich und Gorilla vor unserem rollenden Buchkiosk sehen. Die Geschäfte laufen wie geschmiert, wir haben kaum eine freie Minute. Leider kann ich Dir nicht schreiben, wo wir sind, falls sich jemand den Brief schnappt und damit zu Tord auf die Stadtverwaltung geht. Aber eines Tages sehen wir uns bestimmt wieder. Mach’s gut bis dahin. Viele Grüße, Jonna
PS: Sollte jemals ein Gorilla in einem hässlichen Auto im Kinderheim auftauchen, dann ergreife Deine Chance. Es ist nicht immer alles so, wie es aussieht. Gruß. Ich«

Den elften Teil der Geschichte findet ihr hier.

Frida Nilsson:
Ich, Gorilla und der Affenstern
Gerstenberg
Verlag, 12,95 €