Die Geschichte müsse neu geschrieben werde, hatte Wikileaks vor Veröffentlichung der „Embassy Files“ per Twitter verkündet. Eine hohe Erwartung. Das zentrale Problem bei der Bewertung: Wikileaks will mit den 251.000 Dokumenten vorerst nur ein Drittel der Depeschen veröffentlichen, die der Organistation insgesamt vorliegen. Die 500.000 weiteren Schriftstücke würden erst im Laufe der kommenden Monate frei gegeben, heißt es auf der dazugehörigen Website cablegate.wikileaks.org.
Das Themenspektrum und der geographische Bezug seien so weit gefasst, dass man nur mit einer schrittweisen Veröffentlichung dem Material gerecht würde. Als Vorgeschmack verwies Wikileaks auf ein Diagramm, das die Verteilung der wohl insgesamt knapp 770.000 Depeschen in 100 Themen einsortiert. Hier finden die sich als Liste.
Nach welchen Kritierien die schon veröffentlichen Depeschen ausgewählt wurden, ist nicht bekannt. Diese Intransparenz seitens Wikileaks könnte sich noch als Bumerang für die eigene Glaubwürdigkeit erweisen. Denn mittlerweile wird die Organisation ihrem eigenen Namen nicht mehr gerecht: Der spielt eindeutig auf das Wikipedia-Prinzip an, das vor allem darauf basiert, dass jeder sich beteiligen und jeder Diskussionen und Entscheidungen nachvollziehen kann.
Wikileaks ist demnach aber längst kein Wiki mehr: Das Archiv der Leaks aus den vergangenen vier Jahren ist seit geraumer Zeit nicht erreichbar; die großen Datensätze zu Afghanistan und Irak wurden erst priviligierten Partnern zugespielt und erst mit Verzögerung allen zugänglich gemacht.
Zu befürchten ist, dass Julian Assange als nunmehr alleiniger Kopf der Organisation nach dem Abgang einiger wichtiger Personen zu einer selbstkritischen Überprüfung seiner Strategie nicht mehr fähig ist. Wenn das Selbstverständnis von Wikileaks wirklich das eines „Nachrichtendienstes für die Menschen“ ist, wie es das oben abgebildete Emblem nahe legt, sind die mitterweile notorischen Medienpartnerschaften mit Guardian, New York Times und Spiegel schwer zu erklären.
Spätestens mit der Veröffentlichung der Irak-Tagebücher ist Wikileaks global bekannt genug und benötigt besagte Medien nicht mehr als Multiplikator. Doch sucht man noch mehr. Gerade wurde angekündigt, dass bald bekannt gegeben würde, wie sich potentielle Medienpartner für einen Zugriff auf die noch ausstehenden Depeschen „bewerben“ könnten.
Bei der Betrachtung, wie sich die ausgewählten Medien den aktuellen Datensätzen gewidmet haben, wird noch etwas deutlich: Während die Kriegstagebücher sich nicht zuletzt wegen ihrer regionalen Spezifik visuell gut abbilden ließen, sind die diplomatischen Depeschen wesentlich schwerer zu veranschaulichen. Das liegt nicht nur an der geographischen Streuung sondern auch am Inhalt: Entgegen der klar strukturierten militärischen Protokolle sind die Depeschen zum Teil lange Berichte und Analysen: 260 Millionen Worte umfassen laut Wikileaks alle 250.000 Depeschen zusammen – die siebenfache Menge gegenüber den 390.000 Einträgen aus Irak.
Trotzdem verwehrt Wikileaks der Öffentlichkeit einen inhaltlichen Zugriff auf alle Dokumente. Zur Zeit sind nur 200 komplette Depeschen zur sehen; die einzelnen Medien – außer der französischen Zeitung Le Monde – dokumentieren jeweils ein paar Dutzend in voller Länge. Zusätzlich bietet Spiegel Online einen „Atlas“ an, der allerdings wenig erhellend ist: Mittels einer interaktiven Zeitleiste auf einer Weltkarte wird gezeigt, wie sich die 250.000 Nachrichten über die Jahre hinweg verteilen. Dies könnte ein nützliches Instrument sein, wenn über die Einträge auf der Karte auf die jeweilige Depesche zugegriffen werden könnte – was nicht der Fall ist.
Der Guardian versucht es mit einem anderen Ansatz: Das „Datablog“ der Zeitung bietet eine statische Karte, die die Verteilung der Ursprünge der Depeschen über die Welt illustriert. Darüberhinaus findet sich eine Anwendung, die zu ausgewählten Themen, Ländern und Personen sowohl den Text der Depesche als auch entsprechende Artikel aus dem eigenen Archiv liefert. Das ergibt Sinn, da die Depeschen eben nur im jeweiligen politischen und historischen Kontext zu interpretieren sind. Leider erstreckt sich das Angebot des Guardian aber auch nur auf ein dutzend Depeschen.
Die übrigen drei Medien – New York Times, El Pais und Le Monde – bieten keine Visualisierung des Datensatzes an.
Die franzöische Website owni.fr, die schon zu den Afghanistan und Irak-Tagebüchern jeweils Wege zur kolloborativen Recherche angeboten hatte, trägt auch diesmal alle zugänglichen Datensätze in solch einer Anwendung zusammen. Allerdings hatte sich die Datenjournalismus-Agentur dieses Mal gegen eine Kooperation mit Wikileaks entschieden. In der eigenen Blogberichterstattung zu dem Diplomaten-Datensatz heißt es: „Wir wollten uns nicht durch eine Nichtveröffentlichungsvereinbarung einschränken lassen.“
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Quelle des Bildes ganz oben: Agents of Chaos (CC by:sa)