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Warum die Primarschule in Hamburg gescheitert ist

 

von Andrea Römmele und Henrik Schober

AndreaDer Hamburger Volksentscheid über die Schulreform hat eine eindeutige Siegerin hervorgebracht: die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“. 58 Prozent der Wähler haben der Bürgerinitiative zugestimmt, während der konkurrierende Vorschlag, der immerhin von allen in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien unterstützt wurde, nur 45,5 Prozent Zustimmung verzeichnen konnte.* Somit haben die Bürger entschieden, dass das bisherige System der vierjährigen Grundschule bestehen bleibt und das gemeinsame Lernen nicht auf sechs Jahre ausgedehnt wird.

Volksentscheide sind in Deutschland eine relative neue Form demokratischer Beteiligung und nicht zuletzt deshalb ist die Analyse des Hamburger Ergebnisses bundesweit von Interesse: Warum konnte sich der gemeinsame Vorschlag nicht durchsetzen? Lassen sich aus dem Scheitern dieses Vorzeigeprojektes Erfolgskriterien für Volksentscheide im Allgemeinen ableiten?

Unserer Ansicht nach gibt es zwei Argumente, die den Ausgang der Abstimmung erklären können.

Das Partizipationsargument: Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 39,3 Prozent, hat sich allerdings zwischen den Stadtteilen stark unterschieden. Während in Nienstedten der Spitzenwert von 60,3 Prozent erreicht wurde, konnten in Billbrook gerade einmal 12,5 Prozent verzeichnet werden. Dabei ist auffällig, dass die Wahlbeteiligung in den sozial schwächeren Stadtteilen eher gering war, während sie in den wohlhabenderen Gegenden überdurchschnittlich hoch ausgefallen ist. Die beiden erwähnten Stadtteile sind dafür exemplarisch: Nienstedten verzeichnet mit 0,5 Prozent die geringste Arbeitslosenquote unter den Stadtteilen, Billbrook mit 15,4 Prozent die höchste.

Dies bestätigt einen gängigen Befund der Partizipationsforschung, nach dem die Wahlbeteiligung in sozial schwächeren Schichten generell niedriger ist als in den wohlhabenderen Schichten. Das Dilemma: Eigentlich sollte die Schulreform gerade für jene sozial Schwachen Vorteile bringen, sie konnten aber nicht mobilisiert werden. Dieser Umstand kam der Bürgerinitiative zu Gute: Ihr Plädoyer für den Erhalt des Gymnasiums hat insbesondere die wohlhabenden und partizipationsbereiten Schichten angesprochen. Der entsprechende Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau, Bildungschancen und politischer Partizipation wurde verschiedentlich nachgewiesen (siehe hierzu ausführlich van Deth 2009). Die Zielgruppe der Bürgerinitiative war also geradezu ideal dafür geeignet, das Regierungsvorhaben durch einen Volksentscheid zu kippen.

Das Kampagnenargument: Neben diesen sozialstrukturellen Argumenten können Aspekte aus dem Bereich der Kampagnenforschung herangezogen werden. Zum einen hat die Bürgerinitiative ihre Kampagne sehr viel früher begonnen als die Regierung. Ein Grund dafür liegt möglicherweise in der Diskussion darüber, ob sich die Bürgerschaft hätte neutral verhalten müssen, wie es von einigen Gegnern der Schulreform gefordert wurde. Zwar haben sich letztlich alle Parteien klar positioniert, allerdings hatte die Kampagne gegen die Schulreform zu diesem Zeitpunkt bereits einen gewaltigen Vorsprung. Dabei ist auch anzumerken, dass sich die Bürgerinitiative eine lange Kampagne leisten konnte. Es können somit zwei Grundregeln moderner Kampagnenführung bestätigt werden (siehe auch Perron und Kriesi 2008): Es lohnt sich, früh anzufangen und viel zu investieren!

Ein weiterer Vorteil der Kampagne gegen die Reform war, dass sie ihre Botschaft sehr viel plastischer und emotionaler darstellen konnte. Mit entsprechender Rückendeckung durch die Boulevardpresse wurde vor dem Qualitätsverlust des Gymnasiums und vor Nachteilen für begabte Kinder gewarnt. Die Wähler konnten so emotionalisiert und damit auch mobilisiert werden. Die Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens hingegen, etwa der langfristige sozioökonomische Nutzen oder die Chancen auf bessere Integration, konnten nicht veranschaulicht werden. Ohne eine konkrete Vision ist es aber sehr schwer, die Zielgruppen zu mobilisieren oder gar andere Wähler zu überzeugen.

Aus Sicht der Wissenschaft liefert der Volksentscheid also keine neuen Erkenntnisse, sondern bestätigt die bestehenden Befunde. Die Befürworter der Primarschule konnten weder die bildungsferneren Zielgruppen ausreichend mobilisieren noch in den bildungsnahen Bevölkerungsschichten genügend Unterstützung einwerben. Zudem konnte der Vorsprung der Kampagne „Wir wollen lernen“ nicht mehr aufgeholt werden.

Was bleibt? Es gibt nach wie vor starke Unterschiede in der Partizipationsbereitschaft, die auch und gerade bei der Vorbereitung von Volksentscheiden berücksichtigt werden müssen. Die Kernfrage der Wahlkampfforschung lautet: do campaigns matter – machen Kampagnen einen Unterschied? Unter dem Eindruck des Hamburger Ergebnisses kann festgestellt werden: Wahlkämpfe können auch Volksentscheide maßgeblich beeinflussen, campaigns do matter

* Über die beiden Vorschläge wurde getrennt abgestimmt. Die Vorlage der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ erhielt 58 Prozent Ja-Stimmen und 42 Prozent Nein-Stimmen, die Vorlage der Bürgerschaft erreichte einen Anteil von 45,5 Prozent Ja-Stimmen bei 54,5 Prozent Nein-Stimmen.

Literaturhinweise:

Van Deth, Jan W.: Politische Partizipation, in: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea (Hg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch. Wiesbaden, 2009.

Perron, Louis/Kriesi, Hanspeter: Neue Trends in der internationalen Wahlkampfberatung, in: Zeitschrift für Politikberatung 1(1), 2008.