Was haben Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel, die Kaida-nahe Terrorgruppe Jabhat al-Nusra in Syrien, die afghanischen Taliban und die somalischen Al-Shabaab-Miliz gemeinsam – abgesehen von ihrer grundlegenden Ideologie natürlich? Genau: Sie sind mittlerweile allesamt auf Twitter aktiv, zum Teil sogar mehrsprachig, etwa auf Arabisch und Englisch.
Das ist an sich keine Überraschung, denn Dschihadisten – und insbesondere Al-Kaida – sind schon immer sehr technologie-affin und propaganda-bewusst gewesen. Es gibt ein berühmtes Zitat von Osama Bin Laden aus den Neunzigern, als er erklärte, eine Atombombe sei weniger wichtig für die Organisation als eine Radiostation. Das Internet hat Al-Kaida bereits Ende der Neunziger entdeckt, es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch auf Twitter entsprechende Accounts auftauchen würden. Seit Jahren haben Experten genau das denn auch vorhergesagt, und ich würde sagen: Seit etwa einem halben Jahr ist es tatsächlich umfassend Realität.
Die Al-Shabaab etwa twittern gelegentlich Anschläge in Echtzeit. (Wobei der Wahrheitsgehalt stets etwas unklar ist; es ist ja auch Propaganda.)
Neben den Terrorgruppen twittert freilich auch eine große Zahl Privatpersonen mit dschihadistischen Überzeugungen – zum Beispiel Kämpfer live aus Syrien; aber natürlich auch sogenannte „Sofa-Dschihadis“ aus ihren Wohnzimmern.
Das Interessante daran finde ich nicht nur das Echtzeit-Element (siehe Beispiel oben), sondern auch die Risikobereitschaft der Twitterer. Denn sie dürften erheblich einfacher für Geheimdienste und Sicherheitsbehörden zu ermitteln sein als sie es zum Beispiel wären, wenn sie sich auch weiterhin vor allem in passwortgeschützten Diskussionsforen austauschten. Andererseits gibt es bisher nur sehr wenig Hinweise auf Menschen, die wegen dschihadistischer Propaganda auf Twitter Probleme bekamen, insofern mag meine Einschätzung falsch sein.
Zwei Terrorforscher, Nico Prucha und Ali Fisher, haben nun im Fachorgan CTC Sentinel eine kleine empirische Studie veröffentlicht. Die ist verdienstvoll, weil sie einige Zahlen liefert. So haben die beiden 76.000 Tweets analysiert und kommen zu dem Ergebnis, dass es ein Netzwerk von „Content-Sharern“ gibt, das aus mehr als 20.000 Twitter-Accounts besteht. Diese Zahl muss natürlich als vorläufig betrachtet werden, auch als naturgemäß ungenau – ein Account kann von mehreren Personen bespielt werden, genau wie umgekehrt eine Person mehrere Accounts befüllen mag. Die absolute Zahl von Dschihadisten auf Twitter ist vermutlich deutlich höher.
Aber es ist immerhin eine Größenordnung, die uns anzeigt, wie groß das Propaganda-Karussell auf Twitter derzeit in etwa ist.
Viele der Links führen übrigens zu YouTube-Konten, auf denen Videomaterial hinterlegt ist. Etliche zeigen Bilder, zum Beispiel vom Schlachtfeld, oder zur Verherrlichung gefallener Kämpfer.
Auch für die Verbreitung von dem, was für Dschihadisten relevante Neuigkeiten sind, hat Twitter eine gewisse Bedeutung erlangt. Der Goldstandard, wenn man die neueste Rede oder das aktuellste Videos einer Kaida-Größe finden wollte, waren bisher ein rundes halbes Dutzend Internetseiten, die Freiwillige in Kooperation mit Al-Kaida & Co betreiben, und wo das meiste authentische Material dieser Gruppen bereitgestellt wird. Jetzt tweeten Aktivisten neue Links zu neuen Videos, sobald diese erscheinen – der Nachrichtenzyklus wird beschleunigt.
Interessant ist überdies, dass Twitter einen weiteren Nebeneffekt hat: Terrorforscher und Journalisten zum Beispiel können sich an diese Twitterer recht einfach direkt wenden – und erhalten mitunter Antwort. Ganze Interviews, etwa mit Al-Shabaab-Aktivisten, sind auf dieses Weise bereits entstanden. Das ersetzt echte Recherche nicht, und es ist natürlich fast unmöglich, in einem Tweet Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten. Aber relevante Fitzelchen finden mitunter auf diese Weise durchaus ihren Weg an die Öffentlichkeit. (Andersherum können dschihadistische Twitterer etwa unliebsame Presseberichte von unliebsamen Journalisten ebenso öffentlich attackieren – und tun dies auch.)
Prucha und Fisher beschreiben das aktuelle Maß der Twitter-Nutzung durch Dschihadisten als einen Durchbruch. Das ist angemessen. Noch aber hat Twitter die Websites und Diskussionsforen nicht ersetzt, und ich glaube auch nicht, dass das so schnell passieren wird.
Aber im Auge behalten muss man diese Entwicklung.