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Ein Jahr lang nur Schach spielen

 

Gemessen an den eigenen Ansprüchen, geht es dem deutschen Schach nicht gut. Nach dem Sensationssieg bei der Mannschafts-EM 2011 blieben Erfolge der Nationalmannschaft zuletzt aus, als Titelverteidiger präsentierte sie sich 2013 in Warschau desolat. Auch der Nachwuchs bekommt bei den Welt- und Europameisterschaften regelmäßig seine Grenzen aufgezeigt.

Deshalb hat der Deutsche Schachbund eine einzigartige Maßnahme ergriffen: Er ließ sich das Schachjahr einfallen.

Zwei talentierte Nachwuchsspieler dürfen sich nach ihrem Abitur ein Jahr lang ausschließlich mit Schach beschäftigen, sich richtig austoben in den Turniersälen Europas. Sie sollen mit freiem Kopf ihre Kräfte ausreizen, probieren, wie weit sie es schaffen können, und so den Nationalspielern Konkurrenz machen. Einer der Jungen ist Matthias Blübaum.

Blübaum ist eines der größten Talente des deutschen Schachs. Er ist 16 Jahre alt und könnte schon nach seinem nächsten großen Turnier Großmeister werden. Er wäre damit der zweitjüngste deutsche Großmeister aller Zeiten.

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Matthias Blübaum spielt in der Bundesliga seit der Saison 2012/13 für Werder Bremen. (Copyright: Stefan64/wikipedia)

Bekannt wurde Blübaum mit zwölf Jahren, als er Teil der sogenannten Prinzengruppe wurde, die der Bundesnachwuchstrainer Bernd Vökler gründete. Die vier Jungen, die „Prinzen“ sollten innerhalb weniger Jahre zu „Königen“ werden, zu Großmeistern. Dank gelungener Förderung, Gruppendynamik und auch ein wenig Glück, wie Vökler selbst zugibt, hat das Projekt eine hundertprozentige Trefferquote. Bei allen Vieren stellt sich nicht die Frage, ob sie Großmeister werden, sondern wann.

Wie Magnus Carlsen kommt auch Blübaum aus einer schachbegeisterten Familie. Sein Vater Karl-Ernst (Elo 2253) hat schon einige Profis besiegt. Die älteren Schwestern Bettina und Johanna waren in ihrer Jugend bei den deutschen Mädchenmeisterschaften meist in der Spitzengruppe dabei.

Den väterlichen Einfluss merkt man auch Blübaums Spiel an. Er folgt, was Eröffnungen angeht, bis heute seinem Beispiel: Mit Schwarz nur Französisch und Slawisch, mit Weiß nur 1.d4 2.c4 3.Sc3 gegen (fast) alles, klassisch und prinzipiell. Nur langsam beginnt sich der Nachwuchsspieler auch für Neues zu öffnen, stellt im dritten Zug auch mal den Springer nach f3, spielt auch mal Katalanisch. Bei der Jugend-WM 2013 in den Vereinigten Arabischen Emiraten war er noch zu ausrechenbar und unflexibel, sein Wissen geht bisher eher in die Tiefe als in die Breite. Blübaum weiß das: „Je stärker man wird, desto mehr muss man auch variieren können,“ sagt er.

Wie gefährlich es jedoch jetzt schon ist, sich gegen ihn in einem Gedächtniswettbewerb zu messen, zeigt seine Partie gegen das dänische Talent Mads Andersen, welche erst im 19. Zug von der Großmeisterpartie Tomaschewski gegen Ni Hua abweicht. Wo der chinesische Großmeister die Gefahr erkannte und mit 19…Le7 seinen Läufer entwickelte (und später trotzdem verlor), gabelte der Däne mit 19…b5 gierig die weißen Springer auf. Und wurde bestraft. Blübaum kannte bereits die Widerlegung.

Ob Blübaum es bis in die absolute Weltspitze schafft, ist aber fraglich. Großmeister mit 16 oder 17 Jahren ist zwar aller Ehren wert, aber ganz oben herrscht ein anderes Tempo. Carlsen hat die Hürde mit 13 genommen und ist in dieser Wertung trotzdem nur Zweiter hinter Sergej Karjakin, der nur 12 Jahre brauchte. Blübaums Leistungskurve ist, genauso wie sein Stil, solide und konstant, aber nicht so dynamisch und explosiv. „Die Leistungssprünge werden immer kleiner, umso stärker man wird“, gesteht er. Selbst Arkadij Najditsch einzuholen, die aktuelle deutsche Nummer eins, wird schwer genug.

Aber Blübaum will auch gar nicht Profi werden. „Ich konzentriere mich bis zum letzten Tag auf das Abitur,“ sagt er mehrfach. Er will studieren, wenn das Schachjahr vorbei ist. Blübaum kann sich nicht anfreunden mit dem Lebenswandel derjenigen, die kaum stärker sind als er jetzt und versuchen, sich von Schach zu ernähren. Das Leben aus dem Koffer, rastlos unterwegs zwischen verschiedenen Städten und Hotelzimmern, ist nichts für ihn. In vielen anderen Ländern ist eine professionelle Schachlaufbahn ein Ausbruch, eine Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Deutschland gehört nicht dazu.

Trotzdem gibt der Schachbund nicht auf. Für das Schachjahr, das Blübaum zusammen mit einem anderen „Prinzen“, mit Dennis Wagner, bestreiten wird, gibt es für Schachverhältnisse viel Geld, das eigentlich nicht da ist. Vökler hofft, dass es sich einer der beiden noch anders überlegen könnte mit der Profilaufbahn, wenn er schnell die Grenze von 2600 Elo-Punkten überschreitet, eine fiktive Marke ab der man, dem Vernehmen der Elite nach, beginnt, wirklich etwas von Schach zu verstehen.

Neben neuen Nationalspielern wäre dies für den Schachbund ein großer Imagegewinn. Während China, Indien oder auch die Türkei immer mehr die Jugendturniere dominieren, bleiben die großen Erfolge der deutschen Jugendlichen aus. Und die, die doch gut sind, bleiben oft nur bis zum Abitur mit voller Kraft dabei. Wer es im Schach wirklich zu etwas gebracht hat, ist auch schlau genug zu verstehen, dass er woanders viel mehr Geld verdienen kann.

So gehen dem deutschen Schach immer wieder die hellen Köpfe verloren. Junge Erwachsene, die wiederum die nächste Generation Schachspieler begeistern können und die durch ihre Präsenz auf Turnieren Schach wieder ein bisschen cooler machen. Das ist auch notwendig. Auf die Frage, ob Schach cool sei, sagt Blübaum: „Naja, in Deutschland nicht unbedingt.“