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Das lauteste Schachturnier der Welt

 

Der Bahnsteig der Hamburger U-Bahn-Station Stephansplatz ist in der Mitte schwarz-weiß gemustert. Kinder machen die Fliesen zum Spielplatz. „Ich bin der Läufer“, ruft ein Mädchen und hüpft schräg zur Seite. „Und ich bin der Springer“, antwortet ein Junge mit einem Rösselsprung. Letzte Vorbereitungen auf dem Weg ins CCH, Hamburgs Kongresshalle. Es ist Dienstag, der 12. April, um 10 Uhr beginnt der Wettkampf rechtes Alsterufer gegen linkes Alsterufer. Es beginnt das größte Schulschachturnier der Welt.

Die Alster ist einer der zwei großen Flüsse Hamburgs, sie macht die Stadt schön und grün. Seit 1958 (mit einer Pause von 1972 und 1975) treten Hamburger Schulen, die links der Alster liegen, einmal im Jahr zum Schachwettkampf gegen Schulen an, die rechts der Alster liegen – von der Quelle aus betrachtet. Bei der Premiere 1958 waren 193 Schüler dabei, wie viele Teilnehmer es 1959 waren, weiß man nicht, aber immerhin kam Schachweltmeister Michail Botwinnik mit seinem Sekundanten Salo Flohr zu Besuch. 1988 waren es 3.616 – Eintrag ins Guinnessbuch.
In der Gesamtwertung führt das rechte Alsterufer nach Punkten. 23.806,5 zu 21.439,5 steht es vor dem Wettkampf 2016, öfter gewonnen hat allerdings das linke Alsterufer. Titelverteidiger sind die vom rechten Ufer.

botwinnik

Nun aber genug mit Statistik. Mehr als 2.600 Schülerinnen und Schüler sind heute ins CCH gekommen. Während sie auf den Einlass in den Spielsaal warten, sitzen manche in Gruppen auf dem Boden und starren fasziniert auf das Schachbrett vor ihnen. Andere haben entdeckt, dass sich das Plastikschachbrett auch gut zusammenrollen und als Keule bei einer Auseinandersetzung mit Mitschülern nutzen lässt.

Dann öffnen sich die Saaltüren, es beginnt die Suche nach dem Gegner. Jede Mannschaft besteht aus acht Spielern, ausgelost haben die Organisatoren schon vorher. Wichtig ist, dass die Mannschaften möglichst gleich stark sind. So sollte ein Abiturjahrgang gegen einen anderen Abiturjahrgang spielen und nicht gegen Siebt- oder Zweitklässler. Vor dem Turnier hat die Organisation die Mannschaften um eine Selbsteinschätzung der Spielstärke ihrer Teams gebeten. Da ist so mancher Betreuer ganz bescheiden geworden und hat die Stärke des eigenen Teams kleingeredet. Denn Chancen auf den Siegerpokal haben nur die Mannschaften, die 8:0 gewinnen. Gegen eine gleichstarke Mannschaft ist das kaum zu machen.

Doch die Organisatoren kennen die Hamburger Schulschachszene gut und haben so manche Fehleinschätzung korrigiert, um Ungerechtigkeiten zu meiden. Ohnehin ist das Organisationsteam eingespielt und effizient. Kurz vor 10 haben Tausende aufgeregte Kinder den Platz gefunden, sitzen am Brett und warten darauf, den ersten Zug zu machen. Dann tritt Björn Lengwenus, treibende Kraft des Organisationsteams, ans Mikrofon und hält eine kurze Ansprache.

Hamburg: Das lauteste Schachturnier
An die Bretter, fertig, los! Schulschach in Hamburg © Nadja Wittman/ChessBase

Lengwenus ist Schachenthusiast und Schöpfer des Schachlernprogramms Fritz & Fertig, das in siebzehn Sprachen übersetzt und mehr als eine halbe Million Mal verkauft wurde. Als Lehrer und Schulleiter weiß er, wie man sich bei Schülern Gehör verschafft, und hat keine Mühe, sich trotz der Lautstärke im Saal verständlich zu machen. Deutlich weniger Routine im Umgang mit Schreihälsen legen bei ihren Ansprachen der Hamburger Schulsenator Ties Rabe und Carsten Höltkemeyer, der Vertreter des Hauptsponsors, an den Tag.

Dann wird es dunkel im Saal und die Siegermannschaft des Vorjahres trägt den Siegerpokal zur Bühne. Nachdem die Trophäe abgestellt ist, zählt Lengwenus die Sekunden bis zum Spielbeginn: „Zehn, neun, acht, sieben …“ Bei „eins“ gibt Lengwenus die Bretter frei und die Partien beginnen. Die jungen Schachliebhaber spielen ohne Uhr, aber mit Leidenschaft, wenn auch nicht immer ganz regelfest. So mancher hat gerade erst mit dem Schach angefangen und weiß noch nicht, dass man den gegnerischen König nicht schlagen darf, sondern matt setzen muss.

Die ersten Partien sind schnell vorbei, bald zeichnet sich ab, dass das rechte Alsterufer erneut dominiert. Mit 716,5 zu 595,5 fällt der Sieg am Ende überraschend klar und noch höher als im Vorjahr aus.

Welche Mannschaft den Pokal mitnehmen darf, entscheidet das Los. Alle Mannschaften, die 8:0 gewonnen haben und zum rechten Alsterufer gehören, können sich Hoffnung machen. Glück bei der Verlosung hat die 13. Mannschaft der Bugenhagenschule, ein Team aus Erst- und Zweitklässlern.

Die Siegerehrung verläuft dramatisch. Es stehen nur sieben Sieger auf der Bühne. Ein Kind fehlt, im Saal sucht man vergeblich. Nach hektischen Telefonaten kommt Entwarnung: Das achte Kind hat sich nach dem Kampf mit seinen Gegnern auf den Heimweg gemacht.

2017 findet das Alsteruferturnier nicht mehr im CCH statt. Die Hamburger Kongresshalle wird teilweise abgerissen, teilweise renoviert. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich nach einem neuen Spielort umschauen. Doch wie Björn Lengwenus während seiner Eröffnungsansprache erklärte, hat man „schon viele Ideen“. Das ist gut. Lustiger, lauter und lebendiger als beim Hamburger Alsteruferturnier ist Schach selten.

© Nadja Wittman/ChessBase
Björn Lengwenus mit den Siegern © Nadja Wittman/ChessBase