Es soll das Schachhighlight 2014 werden. Die diesjährige Schachweltmeisterschaft findet vom 7. bis 28. November im olympischen Sotschi statt. Die Schachwelt kann die Neuauflage des WM-Matches 2013 zwischen dem Ex-Weltmeister Viswanathan Anand und dem amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen kaum erwarten. Sie rechnet mit einem engen Kampf. Anand ließ in letzter Zeit wieder seine alte Klasse aufblitzen und qualifizierte sich verdient beim diesjährigen Kandidatenturnier für den WM-Kampf.
Soweit die Theorie. Doch es ist unklar, ob sich Anand und Carlsen tatsächlich in zwei Monaten miteinander messen. Die Frist für die Vertragsunterzeichnung zwischen beiden Spielern und dem Weltschachbund FIDE endete offiziell am 31. August. Der Herausforderer Anand hat den Vertrag unterschrieben, der Weltmeister Carlsen hat seine Unterschrift verweigert. Lediglich durch das Eingreifen Emil Sutovskys, des Präsidenten der ACO (Association of Chess Professionals), konnte die Frist bis zu diesem Sonntag verlängert werden. Ob die Parteien sich einigen, wird bezweifelt. Zu groß erscheinen die Differenzen zwischen Weltmeister und Weltverband. Wird Carlsen Sotschi boykottieren?
Der Streit dreht sich um Geld, um Zeit. Nachdem die FIDE den Preisfond im Vergleich zum vorigen WM-Kampf halbiert hat, muss sich das Team Carlsen nach anderen Einnahmequellen umsehen. Bei einer Weltmeisterschaft geht es auch um Vermarktung, insbesondere um Fernsehrechte. Im Gegensatz zum Rest der Welt ist in Norwegen Schach massenmedientauglich geworden. Jede einzelne WM-Partie soll live im TV zu sehen sein, Carlsen ist nicht nur Weltmeister, sondern auch Nationalheld. Damit sich jedoch mit der Marke Carlsen Geld verdienen lässt, braucht es Zeit, um mit den Verantwortlichen des norwegischen Fernsehens zu verhandeln. Zeit, die verloren gegangen ist, weil die FIDE es nicht geschafft hatte, rechtzeitig einen Austragungsort für die Weltmeisterschaft zu finden. Nachdem die Bewerbungsfristen fruchtlos abgelaufen waren, musste der Präsident der FIDE Kirsan Iljumschinow Ergebnisse liefern. Mit Hilfe seines Ziehvaters konnte er im Juni Sotschi als Austragungsort präsentieren. Der Name seines Ziehvaters: Wladimir Putin.
Das war Espen Agdestein, Carlsens Manager, zu knapp. Er fragte die FIDE, ob sie die WM verschieben könne. Doch Iljumschinow hält es mit Anfragen aus dem Westen wie sein Vertrauter aus dem Kreml: Er schmetterte sie ab. Und verwies auf den engen Zeitplan der FIDE. Dies ist zwar legitim, schließlich besteht auch eine vertragliche Verpflichtung gegenüber dem Team Anand, das auf die Einhaltung des Termins vertrauen darf. Doch warum sucht der Verband nicht nach einer gemeinsamen Lösung?
Was auf dem Spiel steht, lehrt ein Blick in die Schachgeschichte: 1993 hatte sich der damalige Weltmeister Garri Kasparow zusammen mit seinem Herausforderer Nigel Short von der FIDE gelöst und eine eigene Organisation gegründet. In der Folge wurden die WM-Kämpfe parallel ausgetragen. Erst 2006 kam es zum Vereinigungsmatch zwischen Wladimir Kramnik und Weltmeister Wesselin Topalow. Diese 13 Jahre der Spaltung zwischen Weltmeister und Weltverband haben der Schachwelt geschadet, sie standen im Widerspruch zum Credo der FIDE: „gens una sumus“ („Wir sind ein Volk“).
Verzichtet Carlsen auf die Weltmeisterschaft, so würde nach den Statuten automatisch der Zweitplatzierte des Kandidatenturniers nachrücken. Es handelt sich um den 24-jährigen Sergey Karjakin, der in Semferopol, der Hauptstadt der Krim, aufgewachsen ist. Die russische Staatsbürgerschaft besitzt er seit 2009. Karjakin ließ bereits verkünden, dass er das Angebot annehmen werde. Sicher wäre ein WM-Kampf für den jüngsten Großmeister aller Zeiten ein früher Höhepunkt seiner Karriere. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass der Sieger des Matches eine große Akzeptanz in der Schachwelt erfahren würde. Weder Karjakin noch Anand gehören aktuell zu den Top 3 der Weltelite. Der Sieger würde als Weltmeister zweiter Klasse in die Geschichte eingehen. Ein Etikett, mit dem von 1993 bis 2006 viele Weltmeister leben mussten, waren doch häufig die besten Spieler nicht an dem WM-Zyklus beteiligt.
Riskiert Magnus Carlsen wirklich seinen WM-Titel? Oder unterwirft er sich in letzter Sekunde dem Angebot, dem Diktat der FIDE? Die FIDE würde ihr Aushängeschild verlieren. Ohne Carlsen, den man auch außerhalb der Schachszene kennt, würde die WM erheblich an Attraktivität einbüßen. Auch der Herausforderer Anand wird gegen Ende seiner Karriere den Kampf gegen die Nummer 1 der Welt einem Match gegen den farblosen Russen vorziehen. Bis Sonntag muss sich der Weltmeister entscheiden.