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Das Schach verfällt dem Jugendwahn

 

Nigel Short // © Alina Lami
Nigel Short // © Alina l’Ami

Nigel Short zählt zu den besten hundert Spielern der Welt und manchem Schachfreund kommt es vor wie gestern, als man Nigel Short ein Wunderkind nannte. Mit zwölf nahm der Engländer als jüngster Teilnehmer aller Zeiten an den Britischen Meisterschaften teil, mit fünfzehn wurde er Vize-Weltmeister der Unter 20-Jährigen. Dreizehn Jahre später, 1993, zog Short auch im Kampf um den Welttitel den Kürzeren. Beide Titel gewann Garri Kasparow.

Weil Short am 1. Juni fünfzig Jahre wird, ist er ein alter Mann. Zumindest, wenn es nach dem Weltschachverband Fide geht. Der hat nämlich vor zwei Jahren die Altersgrenze, ab wann man im Schach als Senior gilt, um zehn Jahre gesenkt. Jetzt sind Schachspieler, die im laufenden Jahr fünfzig werden oder älter sind, Senioren.

Im Fußball und den meisten anderen Sportarten wäre fünfzig ein biblisches Alter. Aber im Schach, wo es weniger auf Physis, mehr auf den Geist ankommt? Zwar hinterlässt das Alter, wie überall, auch im Schach Spuren, die Leistungsfähigkeit nimmt ab, je älter man wird. Man sagt auch hier: „Schach ist ein Spiel für junge Leute.“ Und manche Zahlen scheinen das zu bestätigen: Weltmeister Magnus Carlsen ist noch keine fünfundzwanzig, vier der aktuellen Top-Ten-Spieler wurden nach 1990 geboren und nur vier Spieler der derzeitigen Top 100 kamen vor 1970 auf die Welt.

Doch es stimmt nicht, dass man ab fünfzig nicht mehr mithalten kann. Dass die Fide dem Jugendwahn verfällt, das Alter diskriminiert, müsste sie schon beim Blick auf die WM-Endspiele in den Jahren 2013 und 2014 merken. In denen kämpfte Viswanathan Anand, heute fünfundvierzig.

Auch Short führt keineswegs ein ruhiges Rentnerleben. Er liegt auf Platz 84 der Weltrangliste. An der Mannschaftsweltmeisterschaft für Senioren, die vom 24. Februar bis zum 4. März 2015 in Dresden gespielt wurde, gewann er mit dem englischen Team die Bronzemedaille, hinter der Slowakei und Deutschland. Short erzielte mit 7 Punkten aus 8 Partien mit dem Slowaken Lubomir Ftacnik (7,5 aus 9) das beste Einzelergebnis der Weltmeisterschaft.

Wenn Short nicht Turniere in Afrika, Amerika, Asien, Australien, Amerika oder Europa spielt, kommentiert er bei Spitzenturnieren die Züge der Weltklasse selbstbewusst und eloquent. Seit Jahren begleitet der Engländer das Schachleben mit geschliffenen Polemiken und Provokationen in Schachzeitschriften und im Internet. Auf seinem Twitter-Account zeigt Short, wie er gegen Magnus Carlsen spielt und wie er sich selber sieht: als „Schachspieler, Autor, Kommentator, Olivenfarmer, Gitarrist und ‚Sexy Beast’“.

Auch der Blick in die Schachgeschichte lehrt, dass man mit fünfzig noch nicht den Seniorenteller bestellen oder auf Schonkost umsteigen muss. Da ist zum Beispiel die Karriere von Emanuel Lasker. Der Deutsche war länger als ein Vierteljahrhundert Weltmeister, damit länger als je ein Spieler vor oder nach ihm. Als er seinen Titel 1921 an José Raul Capablanca abgeben musste, war Lasker zweiundfünfzig. Auch danach gehörte er noch lange zu den drei besten Spielern der Welt. Mit den jungen Talenten konnte er es immer aufnehmen. 1935 spielte Lasker in Moskau ein starkes Turnier mit zwanzig Teilnehmern, in dem internationale Spitzenspieler gegen die aufstrebenden Talente der Sowjetunion antraten. Lasker wurde Dritter hinter Salo Flohr und Michail Botwinnik.

1948 wurde Botwinnik Weltmeister, als erster Spieler der Sowjetunion. In den folgenden Jahren verlor er seinen Titel zwei Mal an jüngere Herausforderer (1957 an Wassili Smyslow, 1960 an Mihail Tal). Aber in beiden Fällen holte sich Botwinnik den Weltmeistertitel zurück, zuletzt 1961 im Wettkampf gegen Tal. Da war Botwinnik fünfzig, nach heutigen Regeln ein Senior.

Auch Botwinniks Rivale Smyslow feierte noch im Alter Erfolge. Es fehlte nicht viel und er hätte mit über sechzig noch einmal einen Weltmeisterschaftskampf spielen können. 1982 qualifizierte er sich für die Kandidatenwettkämpfe, in denen der Herausforderer des Weltmeisters ermittelt wird. Smyslow scheiterte erst am späteren Weltmeister Kasparow.

Das beste Beispiel für schachliche Spitzenleistungen im Alter findet man sogar in jüngeren Epochen. Viktor Kortschnoj, der 1931 in Leningrad geboren wurde und heute in der Schweiz lebt, zählte jahrelang zu den besten Spielern der Sowjetunion. 1976 beantragte er während eines Schachturniers in Holland politisches Asyl und verließ die Sowjetunion als Dissident. 1978 und 1981 spielte er zwei Mal gegen Anatoli Karpow um die Weltmeisterschaft, das erste Mal verlor er knapp, das zweite Mal deutlich. Noch 2007 zählte man ihn zu den besten Spielern der Welt, er rangierte mit sechsundsiebzig Jahren auf Platz 85 der Weltrangliste. Vier Jahre später besiegte Kortschnoi Jungtalent Fabiano Caruana, damals bereits die Nummer 25 der Weltrangliste, in einer energischen Partie.

Immerhin erfährt der Begriff „Seniorenschach“ durch die Fide eine Aufwertung. Nächstes Jahr gibt es wieder eine Mannschaftsweltmeisterschaft für Senioren, wieder in Dresden. Da kann Short versuchen, mit England die Goldmedaille zu gewinnen. Doch einfach wird es selbst für einen Topspieler wie ihn nicht. Denn die Schachsenioren werden immer jünger.