Lesezeichen
‹ Alle Einträge

London gemeindet Sport in die Popkultur ein

 

01:45 Das Fazit überlassen wir heute unserem Gast Gunter Gebauer:

„Die Show hat nach leichten Anlaufschwierigkeiten meine hohen Erwartungen erfüllt. London war das Gegengewicht zur Eröffnungsfeier von Peking 2008. Das war zwar perfekt arrangiertes High-Tech, aber trug deutlich autoritäre Züge.

Die Feier in London war viel leichter, hatte viele tanzende Momente, witzige Momente. Die Show zielte auf witzige Stimmung, etwa, dass die großen Hits der englischen Musikkultur zum Tragen kamen. Das war kreativ, das war der Spirit of London. London hat die Popkultur gefeiert, und Sport gehört eben zur Popkultur. Wenn man den Abend zusammenfassen will: Der Sport wurde in die Popkultur eingemeindet.

Die Deutschen haben sich als vergnügte Mannschaft präsentiert, die Gefallen an dem Fest gefunden haben. Unsere Fahnenträgerin Natascha Keller ist eine muntere und witzige Frau. Die ganze Mannschaft strahlt Lebensfreude aus. Das finde ich gut bei deutschen Mannschaften, das war früher nicht immer so. Die Freude ist auf mich übergesprungen.

Erstaunlich auch immer wieder, welche Weltprominenz Olympia versammeln kann: Ban Ki Moon, Muhammad Ali, über hundert Staatsoberhäupter. Schade, dass das IOC nicht in der Lage ist, diese Macht im guten politischen Sinne auszuspielen, sondern meist nur im schlechten.

Negativ: ein paar nationale Misstöne zu Beginn und in der Rede von Sebastian Coe, das langweilige Ende und der deutsche Fernsehkommentar.“

Christian Spiller ergänzt aus dem Stadion: „Bestgelaunte aller Mannschaften auf dem Innenfeld: die Australier. Tanzen, lachen und schwatzen mit den Kanadiern und Chinesen.“

Und ich finde, da war viel dabei. Wenn ich drei vermisst habe, dann: Oasis, Morrissey und Robbie Williams. Und Stuart Pearce. Und damit eine Gute Nacht und Ihnen schöne, spannende Olympische Spiele. Vielen Dank an Gunter Gebauer, der schon auf dem Nachhauseweg ist, und Ihnen fürs Mitmachen.

01:40 Die Flamme wird von einer großen Menge Jugendlicher entzündet, begleitet von ehemaligen britischen Medaillengewinnern. Die Briten entziehen sich der mit großer Spannung erwarteten Frage. Nennen wir es elegant.

Geht’s nur mir so? Ich muss zu Boden schauen, Paul McCartney (70) kommt nicht mehr an die hohen Töne von Hey Jude ran. Aua, Mitleid.

01:19 Die Queen macht bei ihrem Eröffnungssatz einen müden majestätischen Eindruck. I declare this bazaar open.

Ein Tweet von Paul

01:15 Die Funktionäre holen uns mit ihren nichtssagenden Phrasen wieder runter. Kein Wort von Coe und Rogge über München 72.

Jetzt der Eid, nicht nur von Athleten gesprochen. Dr. Soundso: „Ich schwöre, dass ich alle Medikamente selbst hergestellt habe.“

Gebauer: „Ich bin sehr enttäuscht, dass Sebastian Coe einen nationalistischen Ton hereinbringt (‚Nie war ich so stolz, ein Brite zu sein‘). Das hat auf einer internationalen Veranstaltung nichts verloren. Er prophezeit auch etwas zu großsprecherisch, dass die Spiele ein Triumph würden. Ich wünsche mir mehr Understatement. Da merkt man halt, dass er ein konservativer Politiker ist.“

01:05 Arctic Monkeys doing Beatles! Yeah! Herr Gebauer sing mit, aber wie reagiert eigentlich Peking auf diese Show? Die halten das doch bestimmt für ordinär und westliche Dekadenz.

00:32 Ein paar Worte zu den deutschen Fernsehkommentatoren, Herr Gebauer, bitte.

Gebauer: „Schablonenhaft, dröge, forciert um Stimmung bemüht. Es hat keinen Witz, keinen Schwung, keinen Esprit. Das deutsche Fernsehen verkrampft, im Gegensatz zur deutschen Mannschaft. Auch die Beteiligung einer Athletin war offensichtlich keine gute Idee. Kathrin Boron ist mir als eindrucksvolle Persönlichkeit in Erinnerung, doch Sportler können wohl nur aus dem eigenen Sportlerleben etwas beitragen, Einordnungen zu kulturellen und politischen Hintergründen darf man von ihnen nicht erwarten. Sie haben wohl nur die Funktion, emotionale Tiefe herzustellen. Aber das klappte heute auch nicht. Ist ja auch schwer, Gefühle zu beschreiben. ‚Jänsehaut pur‘ hab ich noch im Ohr.“

Heidrun Bleeck schreibt in den Kommentaren: „Wieso ist es im deutschen Fernsehen nicht möglich, einen Engländer, der mit der Geschichte, Musik, Kunst etc. seines Landes vertraut ist, dem Kommentator als „Souffleur“ an die Seite zu stellen? Schade um die vielen Infos, Gags und Aspekte der tollen Brit-Show, die am Großteil des deutschen Fernsehpublikums vermutlich unverstanden vorbeigerauscht sind.“ Herrn Gebauer gefällt das.

00:02 Wie kommt es eigentlich, dass Olympia einen solchen intellektuellen und spirituellen Überbau hat, ungewöhnlich für einen Sportwettbewerb?

Gebauer: „Das geht auf Coubertin zurück, der die Wiederbelebung Olympias bei seinen Landsleuten durchsetzen musste. Die französischen Intellektuellen waren damals theoretisch orientiert, körperfeindlich – im Gegensatz zu den Engländern. Coubertin hat seine Auffassung von Sport überhöht, um sie zu überzeugen. Dabei kam ihm zugute, dass Olympia, geradezu die ganze Antike, insgesamt über Jahrtausende verklärt wurde. Heute sieht man das historische Olympia und die Antike deutlich kritischer.

Dabei hat Coubertin seine Idee mit quasireligiösen Elementen überfrachtet. Die Olympische Idee, der Olympische Eid – das hat alles etwas Weihevolles. Das schleppen die Olympischen Spiele bis heute durch, obwohl das heute nichts mehr mit dem zu tun hat. Und vermutlich auch wohl nie hatte.“

23:30 Herr Gebauer, wie bewerten Sie die Debatte um die verweigerte Schweigeminute für die israelischen Opfer von 1972?

Gebauer: „Ich bin immer für Schweigeminuten. Oder sagen wir: Ich bin für ein würdiges Gedenken. Aber das muss man nicht auf der Eröffnungsfeier machen, denn die soll Vorfreude wecken. Die olympische Bewegung sollte jedenfalls der Toten auf würdevolle Weise gedenken, und zwar auf institutionalisierte Weise, bleibend, bei jeder Feier, nicht nur eine Minute lang. Es wundert mich ohnehin, dass diese Debatte nicht früher schon geführt wurde. Einbeziehen sollte übrigens alle Toten, nicht nur die Israelis. Etwa die Opfer der Studentenrevolten vor den Spielen in Mexiko 1968.

Welche Überlegungen bei der aktuellen Absage gespielt haben, kann ich nicht sagen. Sollte sich der Verdacht erhärten, dass das IOC auf ein Gedenken an die Israelis verzichtet, weil es sich nicht mit der arabischen Welt verscherzen möchte, wäre das fatal. Ich kenne ja die Spekulationen um Thomas Bachs Verbindungen in den Nahen Osten und seine Geschäftsinteressen. Aber dieses Gerücht ist interpretationsabhängig.“

Christian Spiller mailt aus London: „Jetzt, wo der Einmarsch der Teams beginnt, eilen viele Zuschauer aufs Klo. Aber wer soll es ihnen verdenken? Bei so einer tollen Show muss man es halten, bis es nicht mehr geht. Very cool, very british alles. Spätestens bei Mr. Bean und allerspätestens bei dem grandiosen Ritt durch die englische Musikgeschichte haben die Engländer die Welt eingefangen. Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate links und rechts haben ebenfalls tüchtig mitgewippt und ein Tränchen im Auge.“

Philosophengetränk
Philosophengetränk

23:05 Warum spielen sie denn nicht „God Save The Queen“ von den Sex Pistols, wo sie doch schon mal anwesend ist?

Blur statt Oasis. Man muss sich halt für eins entscheiden.

Und Hugh Grant, toll! Ich verlange aber auch Ali G.

22:55 Bei so viel englischer Geschichte – sehen wir später auch einen verschossenen Elfmeter?

Gunter Gebauer muss ans Telefon: Interview mit dem Deutschlandfunk. Ein Mann für alle Sender. Er ist jedenfalls geradezu erfreut über so viel Popkultur (Merke: Gegensatz zu Peking), die inzwischen die Show dominiert.

22:45Die moderne olympische Idee hat auch englische Wurzeln. Pierre de Coubertin hat sich an der Pädagogik britischer Internate orientiert. Kann man das so sagen, Herr Gebauer?

Gebauer: „Ja, an der Realität in der englischen Public School, wo Jugendliche der Oberklasse geformt wurden. Kinder der Reichen, die mit ihren Lehrern den modernen Sport erfunden haben, sich dabei und dadurch diszipliniert haben. Aber genau das zeigt die Feier bislang gerade nicht.“

„Mr. Bean mit Simon Rattle, sehr guter Einfall, große Klasse, genau das hab ich mir von den Briten erhofft. Überhaupt bekommt es einen surrealistischen Touch: fliegende Gorillas, eine zehn Mieter große Frau, viele Mary Poppins und fröhliches Krankenhaus. Jetzt haben sie die Feier schön tief gehängt, genau richtig.“

22:30 Absprung Queen und Bond per Fallschirm: „Das ist echt witzig! Gute Idee.“ (Gebauer)

„Doch aus dem Queen-Begleiter Daniel Craig wurde plötzlich Jacques Rogge. Und als Bondgirl gleich neben dran: Dr. Thomas Bach.“ (C. Spiller)

„Aber das Fahnenhissen ist eine große Enttäuschung. So viel Militär! Und alle Waffenkategorien vorhanden.“ (Gebauer)

„Interessant, hier werden die fünf Ringe direkt aus der englischen Schwerindustrie hergeleitet. Die Engländer klauen bei den Franzosen. Oder sagen wir: Die Engländer eignen sich Geschichte an. Ich dachte, Fakes wären den Chinesen vorbehalten.“ (Gebauer)

22:20 Aus dem Programmheft: Ein bisschen Number Crunching aus dem Programmheft: 7.500 freiwillige Darsteller, 500 Lautsprecher (hört man!), im Innenraum liegen gerade 7.346 Quadratmeter Rasen. Still to come: 320 Betten, 10.490 Athleten, 120 Beats per Minute beim Einmarsch der Sportler (damit sie schneller laufen, kein Scherz) und 7 Milliarden Papierschnipsel, für jeden Erdenbürger einen.

Aber ehrlich gesagt: Bei Eröffnungsfeiern komme ich recht schnell nicht mehr mit.

Gebauer: „Offenbar ist es wie immer: Die Macher wollen Englands Geschichte in neunzig Minuten zeigen. Schwierig. Und dann noch in einem Stadion. Jeder Akt der Darsteller ist symbolisch aufgeladen, und der Zuschauer hechtet nach der Bedeutung. Er ist mit dem Interpretationswahn überfordert.“

22:10 Erstaunlich viel Cricket und Rugby bislang.

22:05 Bradley Wiggins, der englische Tour-de-France-Sieger, tritt in Gelb auf und läutet eine Glocke. „Eine Geste mit bescheidenem symbolischem Gehalt. Außerdem ein totaler Missgriff. Tour de France und Olympia sind wie Feuer und Wasser. Wird das jetzt doch eine nationale Feier?“ (Gebauer)

21:59 Gänse und Kühe laufen ins Stadion, und Poschmann redet von „Exzess“.

21:55 ZON: Heute sendet das ZDF. Aus London. Nicht aus Usedom oder Helgoland etwa. Erleichert?

Gebauer: „Ja, sehr. Wenn es festlich wird, sieht man Steinbrecher im Studio. Das bringt uns schon mal in eine feierliche Stimmung. Die Ruderin Kathrin Boron ist als Expertin am Mikro. Das sieht nach sportlicher Mitbestimmung aus. Aus der Luft sieht das Olympiagelände wie ein Rummelplatz aus, nicht wie eine Weihestätte.“

21:40 Gunter Gebauer ist nun da, sagt, die Erwartungen an diese Feier seien hoch. Welche Bedeutung haben denn Eröffnungsfeiern generell?

Gebauer: „Ursprünglich in der Geschichte der modernen Olmpischen Spiele waren Eröffnungsfeiern ein zeremonieller Rahmen mit religiösem Charakter. Wenn man aus dem Alltag heraustreten will, kann man durch ein Schwellenritual in eine Sonderwelt eintreten: Man tritt über eine Schwelle aus dem profanen Leben in eine höhere Welt, wie man in der Kirche in einen Sakralraum tritt. Das war unter den Bedingungen der Moderne eine rituelle Last für die Olympischen Spiele.

Los Angeles 1932 zum Beispiel war dem Totengedenken gewidmet, in Anspielung an das antike Olympia, dem auch eine Feier des toten Gottes Pelops bevorging. 1936 wurde Olympia zu einer religiös-nationalistischen Feier erhöht. München 1972 hingegen hat folkloristisch-bayrische Elemente in den Mittelpunkt gestellt, etwa Leute mit Lederhosen. Dadurch bekam das eine liebenswürdigen, provinziellen Charakter. München eben.

Andere Städte wie Barcelona 1992 haben sich bemüht, historische Elemente (die Geschichte des Mittelmeerraums) in einer Themen-Show darzustellen. In Peking 2008 erlebten wir die Rückkehr zu Massenspektakel mit hochdisziplinierten Darstellern und einer fulminanten Technik-Show. Von London erwartet man sich den Verzicht auf historische und mythische Tiefgründelei, dafür aber Witz, Popkultur, Understatement. Auf jeden Fall eine Mischung der verschiedenen Elemente, durch die Großbritannien immer wieder zu bezaubern weiß (ein Beatle, Fußballmodel, eine Queen, Farmtiere …).“

21:17 Christian Spiller mailt mir gerade: „Truely international hier im Olympiastadion. Rechts neben mir sitzt der Kollege aus Katar, links ein Mexikaner, daneben zwei Scherzkekse aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die ihre Visitenkarte gegen meine Kreditkarte tauschen wollten. Vor mir zwei Italiener, die nicht still sitzen können, daneben drei Nepalesen, die schon ein paar Gigabyte an Fotos geschossen haben. Ich glaube, das ist Olympia. Die ganze Welt auf kleinem Fleck?“

21:00 Aus dem Stadion twittert der Kollege Christian Spiller. Jens Weinreich bloggt von ebenda. Die New York Times stellt die 25 wichtigsten Athleten der aktuellen Spiele vor.

20:48 Der zweiteilige Plan der Eröffnungsfeier sieht folgendes vor: Teil 1 wird durch den Regisseur Danny Boyle („Trainspotting“) gestaltet. In Teil 2 laufen die Nationen ins Stadion ein, angeführt von Griechenland. Anschließend werden wir eine Ein-Satz-Rede der Queen und den Olympischen Eid durch einen Athleten, einen Trainer und einen Kampfrichter hören. Zum Schluss wird die Fackel hereingetragen und das Olympische Feuer entzündet.

Vorbemerkung

Die Olympische Familie reist nach 1908 und 1948 zum dritten Mal nach London. Die angeblich schlechte Laune der Gastgeber scheint gewichen, und es gibt gute Anzeichen, dass es heitere Spiele werden – trotz aller Sicherheitsvorkehrungen und Militräpräsenz und auch wenn der Guardian seinen olympiagefrusteten Usern seine Homepage mit einem Klick ganz ringfrei anbietet.

Es wäre ein begrüßenswerter Kontrast zu den beiden letzten Sommerspielen: 2004 in Athen schienen sich die Gastgeber nur für die heimischen Athleten zu interessieren, die Spiele 2008 litten unter dem Protz einer Diktatur.

Den heutigen Fernsehabend begleitet die Frage: Wer wird die Olympische Flamme entzünden? Als Favoriten handeln die englischen Zeitungen und Buchmacher: Sir Steven Redgrave, erfolgreichster Brite der Olympiageschichte und sechsfacher Sieger im Rudern, Sir Roger Bannister, der Mann, der als erstes die Meile unter 4 Minuten lief, Daley Thompson, der Zehnkämpfer, der Jürgen Hingsen in den Wahnsinn trieb, und David Beckham, dem Verdienste beim Zuschlag für die Londoner Bewerbung zugerechnet werden (und der für seine Nichtteilnahme bei dem Turnier entschädigt werden könnte).

Charmant fänden wir auch, wenn die Engländer einen Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg entsenden würden. Aber wenn wir einen Vorschlag machen dürften: Wie wärs mit John Cleese? Der hat zwar sportlich überschaubare Verdienste, kann aber schön laufen und die Fackel auf den letzten Metern sicher würdig zum Ziel bringen:

Wir bloggen die Eröffnungsfeier aus der Berliner Redaktion live. Zu uns stoßen wird ab etwa 21.30 Uhr Gunter Gebauer, der viel gefragte Sportphilosoph. Wir freuen uns auf Ihre Kommentare.

Halt, wir haben noch mal nachgeschaut. John Cleese hat doch eine sportliche Vergangenheit: